Richard Russell ist nicht nur Musikproduzent und Chef von XL Recordings, er frönt wohl auch einer Sammelleidenschaft für Samples. Mit Everything Is Recorded hat er eine Musik-Kollabo ins Leben gerufen, in der er diese vollends ausleben kann.

Schon das 2018 erschienene Debütalbum gab sich als sample-lastige Tanzleidenschaft aus und wurde dafür auch für den Mercury Award nominiert. Doch Russells Klangexperimente reichen weiter, so stellt er beim dritten Release „Temporary“ die Frage, wie wohl digitale Folkmusik klingen würde.

Wer jetzt vor dem geistigen Auge an Beyoncé und ihr Grammy-abräumendes Pseudo-Country-Experiment „Cowboy Carter“ denkt, wird glücklicherweise verschont.

Auch, wenn nicht mehr viel vom klassischen Folk auf „Temporary“ vorhanden ist, setzt Russell doch seine Produktionsexpertise ein, um mit namhaften Künstlern wie Sampha, Florence Welch, Bill Callahan und weiteren Emotionen zu verarbeiten.

Das geschieht oft in Spoken-Word-Form oder mit eingebauten Samples und geht nicht selten an die Essenz dessen, was uns denn im Leben als Menschen vereinbart, die Liebe und der Tod.

Kein Wunder, dass sich Russel vom Tanzboden vergangener Alben entfernt. So kuschelt sich „My And Me“ zwitschernd mit Samphas souligem Organ und Laura Groves‚ Chorus durch die Einsamkeit, lässt „Porcupine Tattoo“ Saiten akustisch auf Bill Callahans molliges Organ tropfen, das wiederum mit Noah Cyrus, der Schwester von Miley, ein säuselndes Duett eingeht, das dem Folk auf „Temporary“ noch am nächsten kommt.

Ein Umstand, den man dank „Never Felt Better“ verkraften kann. Das Piano-Intro bietet erneut Samphas Ausnahmestimme eine Plattform, auf der er die emotionale Bandbreite von Soul darlegt. Die Percussion klopft sich rhythmisch ein und Florence Welch erhebt diesen kraftvollen Song zu höchsten Ebenen der Eingängigkeit.

„Ether“ pulsiert elektronisch im Pianotakt durch den Äther, greift das fröhliche Thema von „Never Felt Better“ noch einmal auf und tanzt mit Percussionakustik und Maddy Priors entrücktem Singsang durch Russels Samplesammelalbum.

Stampfender Takt, wummernder Bass und Samphas flehender Gesang bei „Losing You“ sorgen für geschwungene Hüften und verabschiedete Liebesbeziehungen.

„Firelight“ zelebriert die Intuition mit Alabaster DePlumes Gespür für Jazzvirtuosität, Florence Welchs Refrainmomentum, Berwyns Rap-Zurückhaltung und Richard Russels Vintagesampling.

Was soll dann noch schief gehen? „The Summons“ pumpt eineinhalb Minuten Bollywoodsampling auf Sprachsamples zum Thema Tod und Verabschiedung

„No More Rehearsals“ bringt Roses Gabor und Jah Wobble zusammen, um sich reigend zwischen Soul und Folk einen Platz im Gehör zu verschaffen, nur um Sam Mortons hauchendes Organ auf das Downtempo-Elektronik-Gerüst von „You Were Smiling“ zu schnallen. Das vibriert zittrig-nervös im Latinotakt zum Tag der Toten.

Der Verlustthematik bleibt auch Bill Callahan mit „Norm“ treu, das mit Dauerrefrain und Einspielern dem an Krebs verstorbenen Saturday Night Live Komiker Norm MacDonald gedenkt.

Im Fiebertraum taumelt Mary In The Junkyard durch „Swamp Dream #3“ – umgeben von schnarrenden Bässen und pieksenden Mücken mit elektronischen Klangvorlieben. Das gipfelt in einem Lagerfeuerrefrain, mit dem man wohl Eingängigkeit beschwören möchte.

Mit „The Meadows“ kommt Saxofon-Großmeister Kamasi Washington und die kehlige Stimme von Roses Gabor zusammen, um nach einem Pianointro ein Downtempo-Duett anzustimmen, das es noch ein letztes Mal mit dem großartigen „Never Felt Better“ aufzunehmen vermag, dabei mit verspielter Rhythmik fröhlich flötend im Gedächtnis verweilt – bestärkt durch Russels Samples, die einen geliebten Menschen verabschieden.

„Temporary“ setzt sich mit Vergänglichkeit auseinander und bietet mit „Never Felt Better“ doch etwas, das dauerhaft verweilt. Richard Russel bringt mit Everything is Recorded Ausnahmekünstler*innen vor und hinter dem Mikrofon zusammen, allein dafür ist „Temporary“ mehr als hörenswert.

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