Sharon Van Etten ist Multiinstrumentalistin. Sie greift zur Geige und Gitarre wie zur Klarinette, und auf ihrem letzten Album „Remind Me Tomorrow“ von 2019 interessierte sie sich sehr für Tastentöne aus Keyboards, E-Pianos, elektromechanischen Oldtimern, Synthesizern und Exotischem wie dem Theremin, das auf Wärme-Impulse reagiert.
Im Konzert spielt sie natürlich nicht alles gleichzeitig. Ihre Live-Band veränderte sich über die Jahre mehrmals, schon vor einigen Jahren, seit Sharon von der Ostküste nach Kalifornien zog, stießen Devra Hoff am Bass, Schlagzeuger Jorge Balbi und zuletzt Keyboarderin, Pianistin und Gitarristin Kristina ‚Teeny‘ Lieberson zu ihrem Umfeld.
Nun nennt Sharon Van Etten die dreiköpfige Begleit-Gruppe explizit als Album-Titel und sogar als Co-Interpreten: Sharon Van Etten & The Attachment Theory. Attachment Theory ist ein Begriff aus der Psychologie. Wer immer wieder Bindungs-Probleme habe, so das Denkmodell, bringe diese aus der Beziehung zu den eigenen Eltern mit. Das jeweilige Muster resultiere aus einer tief sitzenden Verlustangst oder starkem Urvertrauen.
Nun kreisen die Texte der neuen Stücke dennoch kaum um Beziehungen zu anderen, sondern mehr um die Einstellung dem Leben gegenüber. Der Klang der philosophischen Platte ist ein etwas anderer als auf den letzten Werken der 43-jährigen Van Etten.
Das Album „We’ve Been Going About This All Wrong“ aus dem Frühjahr 2022 kennzeichnete derweil ein ganz anderes Kapitel, war eine Übergangs-Platte. Sharon Van Etten trug mit Ansätzen von Mainstream-Americana-Rock dick auf, klang grell. In diesem Album aus Sharons Zeit als Mutter eines Kleinkinds lässt sich weniger Wagemut heraus hören.
„Remind Me Tomorrow“ flirtete hingegen hier und da mit Avantgarde, begnügte sich Anfang 2019 keineswegs mit süßen Pop-Melodien, sondern kleidete diese in ein maximales Aufgebot an Tasten-Instrumenten aus der Bandbreite von analog über elektromechanisch bis elektronisch. Da war der Gesamtansatz visionär, was damals schon beim verspielten Cover-Bild anfing.
An jenes Album knüpft vor allem das Glanzstück „Southern Life (What It Must Be Like)“ an, es zeichnet sich durch eine ebenso in sich versunkene Atmosphäre aus.
Bei der sphärischen Vertonung der Frage „Who wants to live forever?“ im ersten Track „Live Forever“ nicht an Queens gleichnamigen Hit aus dem Jahr 1986 zu denken, verlangt, den Queen-Song gar nicht zu kennen. Entscheidend am langen Lied der Attachment Theory ist der schillernde und in den Ohren kitzelnde Synthesizer-Part in den letzten zwei Minuten.
Hier schöpft die Band aus der prallen Reichhaltigkeit ihrer analogen Klangerzeugung: Sie spielt zwar nahe an Elektro-Dream-Pop, aber – anders als dort – hört sich kein Ton beiläufig oder untergründig an, sondern alles sehr klar und deutlich.
Die Verschwommenheit mancher Töne unterstreicht Sharons inbrünstigen Gesang und den Stellenwert der Frage, die im Grundsatz an unsere Demut appelliert. Wir alle sind endlich auf dem Planeten, und wäre es nicht gespenstisch, sich ein ewiges Dasein vorzustellen?
Nach diesem starken Statement zum Album-Einstieg ist der Pfad für den Longplayer vorgezeichnet. Das neue Werk „Sharon Van Etten & The Attachment Theory“ deckt nun zwar verschiedene Seiten ab. New Wave webt aber den roten Faden.
In Summe setzt sich ein schönes Puzzle zusammen: Es enthält das besagte, anspruchsvolle Eröffnungs-Stück, das zum Hinhören zwingt und ein bisschen auf Doom-Düsternis setzt.
„Sharon Van Etten & The Attachment Theory“ bietet auch Indie-Pop aus dem Segment ‚Konfektionsware‘, das sich für einen Status als Vorab-Single aufdrängt, wie „Afterlife“ – Elektro mit einem Schuss Glam.
In ein ähnliches und disco-konformes Horn bläst das ebenso lebensweise „Somethin‘ Ain’t Right“ über Mitgefühl: „Do you believe in compassion for enemies?“
Es gibt freundlichen Post-Punk im Stile der Melenas in „Indio“.
Die Platte hält außerdem in „Idiot Box“ einen Nachhall von Dark-Pop bereit, mit pulsierenden, zurückhaltenden Beats in den Strophen wie auch markant scheppernden Drums im Chorus. Ein besonderes Merkmal des neuen Albums, das sich hier auch zeigt, ist die Verdichtung der Gesänge. Kollegin Teeny hört man mitunter recht präsent.
Und das ist Absicht. Denn „es ist eine sehr spirituelle Sache, mit jemandem Harmonien zu singen und überhaupt zusammen zu singen“, erläutert Van Etten den subtilen Chor-Charakter des Werks.
Elegisches in New-Romantic-Tonlage („Fading Beauty“) liegt dem Quartett ebenso wie Melodramatik bei zum Beispiel der Sehnsuchts-Hymne „I Want You Here“. Wer Referenzen sucht, kann in einer Litanei von Achtziger-Bands (The Church, The Cure, Echo And The Bunnymen, Fischer-Z, INXS, New Order, Siouxsie And The Banshees) fündig werden, aus den Siebzigern noch bei Blondie und beim Surf-Sound und der Besessenheit von Poison Ivy und The Cramps.
Seit Sharon Van Etten sich an der Seite von Angel Olsen für den Beitrag „Femme Fatale“ zu einem The-Velvet-Underground–Tribute gewinnen ließ, muss sie mit entsprechenden Vergleichen mit der Band leben. Der überwiegende Teil von „Sharon Van Etten & The Attachment Theory“ klingt dafür jedoch viel zu beschwingt.