Nostalgie war nicht der erste Impuls – Tocotronic im Interview

Ob die frühere Hamburger Schulband Tocotronic will oder nicht: Mit 14 Platten in 30 Jahren zählt sie zum Kanon der deutschsprachigen Popkultur wie Grönemeyer, Rammstein, Element Of Crime. Vielleicht klingt ihr neues Album „Golden Years“ ja deshalb so nostalgisch. Ein falscher Eindruck, meinen Sänger Dirk von Lowtzow und Schlagzeuger Arne Zank im MusikBlog-Gespräch: bestenfalls nach vorauseilender Wehmut dreier Mittfünziger auf dem Zenit ihrer Schaffenskraft.

MusikBlog: Der Titel eurer neuen Platte „Golden Years“ klingt irgendwie nostalgischer, als man es von Tocotronic erwartet hätte. Habt Ihr Heimweh nach früher?

Dirk: Ich würde ihn eher als offenes System bezeichnen, das man sarkastisch aufs Gestern gerichtet deuten darf, apokalyptisch auf die leuchtenden Brände von L.A. gerade oder des Golden Age, das Donald Trump ausgerufen hat. Es funktioniert aber auch als Hoffnungsschimmer einer Momentaufnahme absolut reiner Gegenwart, die der Protagonist im Titelstück als etwas ansieht, das vielleicht nicht mehr besser wird. Ich würde es daher als vorauseilende Wehmut bezeichnen, aber nicht als Nostalgie.

Arne: Weil man den Titel im Englischen auch mit „Ruhestand“ übersetzen kann, verstehe ich ihn auch als Sehnsucht nach vorne, als Vorfreude aufs Rentendasein.

Dirk: Ach! (lacht)

MusikBlog: Das habt ihr mit Anfang 50 schon im Hinterkopf?

Arne: Mit etwas Humor schon. Der hat übrigens auch mit unserem ersten Label L’Age D’Or zu in Hamburg tun hat, das ständig mit dem Gold-Begriff gespielt hat.

Dirk: Gold ist ja auch immer ein bisschen tacky, wie man heute sagt, ein billiger Glanz, nicht ganz echt. Aber wie auch immer: alle dürfen den Titel deuten, wie sie wollen. Das Schöne am Pop ist ja, dass die Kommunikation beim Hören entsteht. Aber wenn du uns fragst, war Nostalgie definitiv nicht der erste Impuls.

MusikBlog: Wobei man nach 14 Platten in 30 Jahren durchaus nostalgisch zurückblicken darf, oder?

Dirk: Klar, aber unsere Entwicklung ging innerhalb eines fortlaufenden Prozesses relativ geradlinig von Punkt zu Punkt bis heute. Genau aus diesem Grund waren wir stets eine Album-Band, die mit sich, der Welt und den Zeitläufen in Dialog tritt. Unser Ansinnen war immer, in dem Sinne großzügig zu sein, viel von uns persönlich mitzuteilen.

Arne: Geradezu geschwätzig sogar.

Dirk: Heute würde man es wohl oversharing nennen, wie wir uns als Personen und Band mitgeteilt haben. Tocotronic war immer ein öffentliches Tagebuch-Führen.

MusikBlog: Aber waren die Ich-Botschaften wirklich Veräußerungen eures Innersten oder nicht doch einfach Kunstgriffe, von sich zu singen, aber alles zu meinen?

Dirk: Natürlich, denn es waren am Ende ja Songtexte, keine Tagebücher, also objektive Tatbestände mit der Möglichkeit, sie subjektiv zu deuten. Dennoch waren gerade die frühen Platten stark von unserem echten Leben geprägt. Liebe, Freundschaft, Jugend…

Arne: Oder die ständige Erklärung, warum wir überhaupt eine Band geworden sind.

MusikBlog: In einer Zeit, die – verglichen mit unserer Dauerkatastrophe – als sorgloses Jahrzehnt gilt, der Francis Fukuyama das Label „Ende der Geschichte“ verpasst hatte. Konnte man darin lockerer aus dem Bauch denken, während die Gegenwart verkopfter ist?

Arne: Ich finde ja, wir waren schon mal verkopfter als heute, haben mittlerweile aber zur Unmittelbarkeit zurückgefunden, einem direkteren Ausdruck in der Sprache wie früher.

Dirk: Ich habe aber auch die Neunziger nie als so unbeschwert empfunden, dass alles aus dem Bauch heraus war. Wir hatten halt andere Interessen und wollten den Alltag darstellungsrealistischer aufsaugen. Von 1999 bis Mitte der Zehner ungefähr war unser Songwriting zwar stärker von Theorien als Praxis geprägt, hat aber immer noch unseren Alltag verdaut. Damals war uns Theorie zum Verständnis der Verhältnisse halt wichtiger. Danach sind die Songs dann wieder ins Autofiktionale gerutscht. Da ist dieses Album eine Mischform all unserer Epochen.

Arne: Wenn ich an die Neunziger zurückdenke, kommt mir weniger Hedonismus in den Sinn als die Baseballschlägerjahre, die Nationalisierung der Popkultur, die Abschaffung des Grundrechts auf Asyl, dieses ganze Das-Boot-ist-voll-Rhetorik. Politisch war da vieles grauslich und persönlich verklemmt, vergrübelt. Soziologisch kann man der Zeit vielleicht Sorglosigkeit attestieren, aber jetzt hier im Rückblick fällt mir das schwer.

Dirk: Ich empfinde uns bisweilen heute sogar als freigeistiger. Wenn man, wie wir, so Ende der Achtziger in den Indie-Hardcore-Punk hinein sozialisiert wurde, gab es viele extrem einengende Regeln, Gebräuche, Codices bis hin zur Frage, ob man auf Major-Labels publizieren dürfe.

Arne: Ich persönlich habe das gar nicht als einengend empfunden. Weil politische Korrektheit – oder wie sie heute heißt: Wokeness – meist einen ernsten Hintergrund hat, nähern wir uns beidem sprachlich und stilistisch halt seit jeher spielerisch, also weder explizit politisch noch unpolitisch.

MusikBlog: Auf der neuen Platte klingt immerhin ein Lied explizit politisch: „Denn Sie wissen, Was Sie Tun“, was nach einer direkten Ansprach an AfD und Identitäre klingt.

Dirk: Es geht eher um die Hegemonie der Niedertracht zur Durchsetzung politischer und persönlicher Zwecke. Dass diese Hegemonie hauptsächlich von rechtspopulistischen oder -extremen Politiker*innen und ihrer gewaltbereiten Gefolgschaft betrieben wird, liegt auf der Hand. Aber unsere Lieder sind eher biografische als politische Mikrolebensdramen. Deshalb würde ich dieses hier als Protestsong beschreiben. Ein Genre, das uns schon immer interessiert.

Arne: Besonders ihr radikales Image, die eigentlich das Gegenteil gesellschaftlicher Sichtweisen beinhaltet, sondern radikal subjektiv ist.

Dirk: Im Pop ist Politik für mich immer eher Werden als Sein. Das sieht man zum Beispiel an „Bye Bye Berlin“ – eine Art Vogelperspektive, aus der das Berghain brennt, beeinflusst von einem amerikanischen Maler, also gar nicht explizit politisch. Durch die Kürzungsorgie des Berliner Senats und seine Austeritätspolitik ist es das aber geworden.

MusikBlog: Spürt ihr diese Austeritätspolitik an eurer künstlerischen Arbeit in dort?

Dirk: Klar. Aber umso mehr gilt, dass die politischen Momente unserer Songs nicht gesetzt sind, sondern entstehen. „Denn Sie Wissen, Was Sie Tun“ ist demzufolge eine Beschäftigung mit Protestsongs.

MusikBlog: Es heißt darin, ihre wollt die Rechten nicht mit Gewalt bekämpfen, sondern auf die Münder küssen. Scheitert diese Umarmungstaktik nicht gerade krachend?

Dirk: Deshalb empfehle ich den Kuss ja als Umarmung, bei der man den Geküssten die Luft zum Atmen nimmt. Der Todeskuss als Tötungsfantasie im poetischen Sinne, gewaltsames Abschwören von der Gewalt gewissermaßen. Durchaus ironisch.

Arne: Und hoffentlich ein bisschen komisch.

MusikBlog: Vielen Dank für das Interview.

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