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Manic Street Preachers – Critical Thinking

Manie gibt es im Grunde nicht ohne Depression. Den abrupten Pendelschlag zwischen beidem nennt man bipolare Störung. Dass es bei den Manic Street Preachers um eine psychische Störung geht, wurde spätestens im Februar 1995 klar. Gründungsmitglied Richey Edwards verschwand nach einer Hotel-Übernachtung auf ewig im Nichts. In diesen Tagen jährt sich das Trauma zum 30. Mal, während das neue Album „Critical Thinking“ erscheint.

Der Schatten dieser Schicksalswendung lag fortan immer über der Band, die daraufhin zuerst aus verbliebenen Texten des Verschollenen neue Lieder machte und sich lange weiterhin sehr oft auf Richey bezog.

1998 legte die punk-verwurzelte Gruppe mit „This Is My Truth Tell Me Yours“ ein glasklares Singer/Songwriter-Werk von unendlicher Schwermut vor. Dessen unfassbare Tiefe ist bis heute insgesamt in der Rockmusik selten zu finden – mit Songs, von denen fast jeder einzelne zum Klassiker wurde. Trotzdem tauschte jener fünfte Longplayer wohl einen beträchtlichen Teil der Fans der Band aus. Gerade in Deutschland kamen zigtausende neue hinzu.

Die Waliser gewannen kommerziell. In den folgenden Jahrzehnten pendelte die Gruppe immer zwischen je einer vordergründig äußerst politischen Platte und einer, die Politik nur manchmal streift. Zwischen je einer rumpelnden und einer poppigeren.

In der Geschichte der Band gab es aber zuletzt mit „Ultra Vivid Lament“ eine liebliche Platte, die musikalisch so indifferent einlullt, dass sie keine Beißkraft hatte. Davon entfernt sich das Trio jetzt zum Glück grundlegend.

Apolitisch wurden die Alternative-Rocker dabei nie, so dass der Name Straßenprediger weiterhin passte. Auf „Critical Thinking“ spannen insbesondere der erste Track, der Titelsong, und der letzte, „One Man Militia“, das Merkmal des Angefressen-Seins um all die kleinen Stories herum.

Wie ein gespanntes Gummiband legt sich diese Haltung mehr oder minder um alle Songs des Longplayers. Den Begriff „Kritisches Denken“ könnte man so ziemlich über jede Manics-Platte schreiben, ob nun die einheimische regierende Garde im UK oder zum Beispiel Figuren der amerikanischen Spitzenpolitik dran glauben mussten.

Bassist Nicky Wire nennt das fertige Werk „energiegeladen und zuweilen euphorisch“. Das trifft völlig zu. Das Euphorisierte, teils wirklich manisch Kraftvolle ist sogar das Entscheidende, das alle Tracks zusammen hält.

„Decline & Fall“ vermittelt das Verzweifelte, das im Manischen auf der Lauer liegt, bevor der Zustand kippt. Hier lässt sich – bei allem Plakativen der Komposition – wieder mal ein Revival heraus hören: Ein Rückbezug zu den Anfängen, zum legendären Debüt „Generation Terrorists“ (1992), zu einem so begnadeten Stück wie „Motorcycle Emptiness„!

„Hiding In Plain Sight“, gesungen von Nicky und Filmkomponistin Lana McDonagh aus Sussex, ist seit langem wieder ein so eingängiger und zugleich stringenter Manics-Britpop, dass er in einer gitarren-affineren Radio- und Spotify-Welt das Potenzial zum Charts-Hit hätte.

Das Oxymoron im Titel, also „sich bei guter Sicht verstecken“, ist eine typische Manics-Formulierung. Gäste wie Lana gab es übrigens schon oft bei den Manics, darunter zuletzt Mark Lanegan, Julia Cumming und Cate Le Bon.

Die gesamte Platte strotzt vor Kraft. Dennoch oder gerade deswegen, weil es keinen Punkt zum Luftholen gibt, rauschen in der Mitte etliche Titel vorbei. Sie erweisen sich nach mehrmaligem Hören überhaupt nicht als eingängig.

„Out Of Time Revival“ lehnt sich sehr eng an die Handschrift des Albums „This Is My Truth Tell Me Yours“ an und hat die die Qualität zum Haftenbleiben. Zwischen teils immenser Klang-Wand, fulminanter E-Gitarre und frei stehenden Flächen, punktet der Tune mit Dynamik.

Auch das Titellied „Critical Thinking“ ist ein knackiger Ohrwurm voller Power. Während „Brushstrokes Of Reason“ recht nüchtern seinen Gitarren-Sound ausspielt, klingt „Deleted Scenes“ eher melodramatisch. „Late Day Peaks“ ist eine Singer/Songwriter-Nummer.

So mannigfaltig die Songs, so unterschiedlich waren die Verfahrensweisen für deren Aufnahmen. Manchmal fanden sich die drei Preachers James Dean Bradfield, Sean Moore, Nicky Wire und zusätzliche Musiker wie Nick Nasmyth, der seit Ewigkeiten als Keyboarder an Bord ist, zusammen im Studio ein. Für manche Tracks lieferte jeder seine Tonspur separat ab.

Das Yin und Yang zwischen verschiedenen Strömungen empfindet die Band auch selbst so, in ihrer eigenen Einschätzung. Nicky Wire kommentiert: „Es geht auf der Platte um Gegensätze, die miteinander kollidieren.“

„Critical Thinking“ kann trotzdem als runde Sache und als bestes Album der Manic Street Preachers seit langem gelten. Es vereint alle bisherigen Stärken des Trios und hält eine Handvoll herausragender Stücke bereit.

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