Sharon Van Etten ist eine der erfolgreichsten Stimmen der großen Folk-Welle der letzten Jahre. Auf „Sharon Van Etten And The Attachment Theory“ spielt sie das erste Mal Songs, die sie im engen Zusammenspiel mit ihrer Band geschrieben hat. Wir trafen die US-Amerikanerin zum Interview und sprachen über Vertrauen, den Zustand der Welt und den Spaß der Zusammenarbeit.
MusikBlog: Hi, Sharon! Schön, dich zu sehen. Danke, dass du dir die Zeit genommen hast. Wie geht es dir heute?
Sharon Van Etten: Ja, so weit so gut. Ich bin am Ende meines Kaffees angelangt. Wie geht es dir?
MusikBlog: Ja, mir geht es auch gut, danke. Ich kann mir vorstellen, dass es bei dir gerade sehr spannend ist – schließlich erscheint bald dein neues Album. Bist du aufgeregt vor dem Tag der Veröffentlichung?
Sharon Van Etten: Ich habe gerade noch gesagt, wie schnell die Zeit vergeht. Von der ersten Idee über den gemeinsam Trip bis zur Aufnahme ging es jetzt so schnell. Das macht mich ein bisschen verrückt. Aber ich freue mich darauf. Die neuen Songs machen einfach Spaß.
MusikBlog: Würdest du sagen, es fühlt sich ein bisschen anders an als bei deinen vorherigen Alben, weil es jetzt so einen neuen Sound gibt?
Sharon Van Etten: Ja, ich denke, das letzte Album hat schon angedeutet, wohin es gehen würde. Jetzt sind aber alle viel persönlicher involviert. Dadurch wird es viel kathartischer für die gesamte Band. Das sorgt für eine intensivere und emotionalere Performance.
MusikBlog: Ich fand es sehr interessant, als ich las, dass diese Platte mit einem Jam begonnen hat. Es machte den Eindruck, als wärst du eigentlich nie ein großer Fan von Jams gewesen. Würdest du sagen, dass sich etwas verändert hat, oder war es nur eine kurze Idee, dass du es mal ausprobieren wolltest?
Sharon Van Etten: Jamming kann einen negativen Beigeschmack haben. Als ich die Idee des Jams im Kopf hatte, war ich erst zu schüchtern, sie auszusprechen. Aber die Band und ich haben uns über die Jahre entwickelt. Die meisten von uns spielen seit 2018 oder 2019 zusammen. Ohne dass wir wussten wofür, schrieben wir nach dem ersten Jam in einer Woche zwei Songs.
MusikBlog: Entstand so die Idee, deine Band mit in dein neues Album zu integrieren?
Sharon Van Etten: Wir haben zusammen getourt, sind zusammen gereist und sind nicht nur als Musiker*innen, sondern auch als Menschen verbunden. Wir sind quasi eine Familie geworden. Wir waren alle so viel mit den alten Songs auf Tour, dass ich von ihnen müde war und bereit war, los zu lassen. Ich wusste sehr schnell, dass das, was hier gerade entsteht, das nächste große Projekt für mich werden würde. Also haben wir die nächste Pause, die wir hatten, in einem Studio in der Wüste verbracht. Es gibt dort nur ein Haus, ein Studio ist separat, und ein paar Trailer, damit fünf Leute sehr gut leben können in diesem sehr isolierten Raum, was auch Verbindung, Kommunikation und Diskurs ermöglicht. Wir hatten Brot, Abendessen und Abendessen – und dazwischen haben wir geschrieben. Ich war so tief inspiriert von diesen sonnigen Sounds, die wir erschaffen hatten. Das war eine große Erleichterung und eine durchweg positive Erfahrung.
MusikBlog: Würdest du sagen, dass das Selbstvertrauen, das du durch die Tour mit deiner Band gewonnen hast, dir den Mut gegeben hat, deinen künstlerischen Prozess zu öffnen?
Sharon Van Etten: Ja, ich habe gespürt, dass unsere persönliche Verbindung wie eine natürliche Progression in unserer kreativen und freundschaftlichen Beziehung wurde. Wir mögen es, beieinander zu sein. Ich bin sehr inspiriert von den Dingen, die die anderen machen. Wir haben alle sehr unterschiedliche, aber auch einige gemeinsame Leidenschaften und Dinge, die wir lieben und die uns interessieren. Aber die anderen haben auch völlig neue Ideen und Perspektiven, die meine Lyrics und meine Themen und meine Perspektiven inspirieren. Ich finde es immer gut, aus meiner Komfortzone zu kommen. Und es ist auch gut und gesund, sich mit anderen Perspektiven zu befassen.
MusikBlog: Es klingt genau wie dieser große Traum vom Musiker*innen-Dasein, mit anderen Leuten zu spielen, mit denen man befreundet ist, aber auch kreative Prozesse hat, die man gemeinsam genießt. Das Ergebnis klingt toll – und es ist sehr interessant, dass du so viele verschiedene Sounds auf diesem Album eingebunden hast. Würdest du sagen, dass es eine neue Erfahrung für dich war, diese Instrumente auszuprobieren?
Sharon Van Etten: Es war schön, die Instrumente mal neu zu denken und dabei auf andere zu vertrauen. Dass ich anderen Musiker*innen, denen ich schon vertraue und deren Geschmack ich verehre, die Freiheit geben konnte, etwas zu erschaffen, war etwas Besonderes. Ich muss ihnen nicht sagen, was sie tun sollen. Ich kann ihnen aber sagen, dass der Weg, den sie gerade gehen, der richtige ist. Ich kann ihnen nur die Dinge zeigen, die ich mag, dass wir mit dieser Basslinie arbeiten und darauf bauen zum Beispiel oder einem Arpeggio-Akkord. Ich lerne dabei, das alles direkt in einem Live-Recording-Moment zu denken. Für mich ist das musikalisch ganz besonders: Es bedeutet für mich Fortschritt in Form von Akkordfolgen, die ich nicht geschrieben hätte, mit Sounds, die ich nicht gemacht hätte, ohne vorgefertigtes Ziel, wo die Musik hingeht. Es hat einfach Spaß gemacht.
MusikBlog: Würdest du sagen, dass du etwas Neues als Songwriterin gelernt hast, wegen dieser Prozesse?
Sharon Van Etten: Ich habe immer Angst, dass der Prozess nicht funktioniert. Meine Songs entstehen aus den Momenten, in denen ich alleine bin. Ich habe viele Jahre versteckt, dass ich Musik geschrieben habe, und wollte meine Songs vor anderen Menschen beschützen. Über die Jahre habe ich aber gelernt, mich zu öffnen, mich zu verletzen und meine Musik zu teilen. Es hat meine Horizonte, meine Perspektiven, erweitert und mich dazu ermöglicht, anderen Menschen zu vertrauen, Ich glaube, dass es eine große Sache ist, Leuten wieder zu vertrauen. Ich bin endlich in meinen 40er Jahren angekommen: Ich kann jetzt loslassen.
MusikBlog: Würdest du sagen, dass dieses Vertrauen zu den anderen dir auch ermöglicht hat, andere Themen in deinen Texten zu verhandeln?
Sharon Van Etten: Ja, es hat sich da auf jeden Fall etwas verändert. Früher habe ich meist aus meiner persönlichen Ebene geschrieben und es dann so verallgemeinert, dass sich möglichst viele damit identifzieren können. Aber bei dieser Band-Aufnahme startete alles durch die Gespräche mit meinen Bandmitgliedern und die gemeinsamen Erfahrungen. Ich wollte das alles nicht nur aus meinen Augen erzählen, sondern auch als kollektive Stimme.
MusikBlog: Dabei sind dann so große Themen wie der Tod in „Afterlife“ auf der Platte gelandet. Ich finde es spannend, dass du diesen Spagat zwischen elektronischen Sounds und so hochtrabenden Themen gewählt hast. Hast du da eine Verbindung gespürt?
Sharon Van Etten: Definitiv. Meine Band befindet sich gerade in den 30er bis 50er Jahren. Wir sind also Erwachsene in dieser kreativen Welt. Und ich denke, während wir älter werden und unsere Partner und unsere Eltern älter werden, fühlt sich die Verbindung zum Tod einfach näher an. Mein Schwiegervater zum Beispiel ist letztes Jahr verstorben und hatte zuvor Demenz. Aber Ich konnte meinen Mann in seinen Augen sehen, und dann konnte ich meinen Sohn in seinem Gesicht sehen. Man sieht diese Generationen und diese verschwindende Schönheit, die in uns allen ist.
MusikBlog: Hast du Angst vorm Älterwerden?
Sharon Van Etten: Wir werden alle älter – in dieser Welt, die sich gerade so beängstigend verändert. Es ist für mich nicht leicht, über solche Themen zu sprechen – aber es hilft zu wissen, dass ich nicht die Einzige bin, die so fühlt.
MusikBlog: Ich denke, in diesen sehr düsteren Zeiten der Menschheit ist es sehr wichtig, mit anderen Menschen verbunden zu bleiben, auch wenn es manchmal nicht so einfach ist. Es ist wichtig, dass man solche Themen in der eigenen Musik nicht auslässt. Es gibt Zeilen wie »You’re nothing but a murderer.Will the people let us down? Will the people turn it round?«, die gut zur politischen Zeit passen. Würdest du sagen, dass das Album auch ein bisschen politisch ist?
Sharon Van Etten: Ich will in meinen Texten nicht zu viel darüber reden, weil wir ja ohnehin jeden Tag damit umgeben sind, aber ich kann es auch nicht ganz auslassen. Ich möchte, dass die Menschen Hoffnung haben. Aber klar: Ich bin gerade auch sehr unglücklich, was den Zustand der Welt anbelangt. Aber ich habe noch Hoffnung – nicht unbedingt politisch, aber für die Gemeinschaft. Es ist wichtig, sich auch in andere Personen hinein zu versetzen, selbst wenn man anderer Meinung ist. Was ich in den letzten vier Jahren gelernt habe ist, wir müssen lernen, zusammen zu leben, sonst wird alles explodieren. Und die Antwort ist nicht, auf den Mars zu fliegen. Wir müssen hier Antworten finden. Ich habe zwar keine, aber ich möchte für die Hoffnung stehen. Ich glaube an die Macht der Menschen.
MusikBlog: Dazu passt ja auch der Song „Southern Life“ – ein sehr interessantes Sound. War es für dich klar, dass du diese Songs als Singles veröffentlichen möchtest?
Sharon Van Etten: Die Lead-Single war mir schnell klar – das war einer der ersten Jams. „Southern Life“ passt zu dem, was ich vorher gesagt habe: Es ist ein Versuch aus einer anderen Perspektive zu singen. Dieser Song gehört zu denen, bei denen die neuen Sounds definitiv am meisten zu hören sind. Insgesamt war es aber erstmal schwierig, weil ich Angst hatte, dass manche Songs in eine völlig andere Richtung gehen und wir es nicht schaffen, die Leute da draußen von unserer Vision zu begeistern.
MusikBlog: Du hast vorhin erwähnt, dass es ein ganz anderes Gefühl wird, mit diesem Album auf Tour zu gehen. Würdest du sagen, dass du dich besonders auf diese neue Materialien live freust? Gibt es bestimmte Momente im ganzen Set, auf die du dich besonders freust?
Sharon Van Etten: Ich denke, es wird vom Tag abhängen. Es gibt bestimmte Songs, die melodisch spannend sind wie etwa „Live Forever“, das wird sehr aufregend und neu. Aber sie sind so energetisch. Es hat sich wirklich gut angefühlt, sie zu spielen, nicht nur als Sängerin, sondern auch mit der Band. Ich bewege mich jetzt auch mehr: Es braucht eine gewisse „Action“ bei den Songs.
MusikBlog: Hast du mal überlegt, nur die neuen Songs zu spielen?
Sharon Van Etten: Nein, ich spiele auch einige der alten Songs. Nächste Woche haben wir unsere Proben und werden die alten Songs üben. Ich möchte sehen, ob es Möglichkeiten gibt, dass sie sich wieder frisch anfühlen. Ich möchte Lösungen finden, in denen die Band mehr involviert ist. Auch wenn dieses Album eine Kollaboration mit meiner Band ist, ist es aber auch immer noch sehr viel Sharon Van Etten – ich bin jetzt nicht plötzlich eine andere Person. Es ist kein komplett neues Projekt, es ist nur eine Abwandlung vom Original.
MusikBlog: Perfekt. Ich kann mir vorstellen, dass es auch sehr interessant ist, mit anderen Gesangsstimmen auf der Bühne zu teilen – das hast du so ja auch noch nie gemacht. Freust du dich darauf oder hast du auch etwas Angst?
Sharon Van Etten: Es ist nicht wie bei normalen Background-Sängerinnen, die sagen, sie brauchen einen Job. Bei uns sind sie wie weitere Hauptstimmen. Wenn man eine Sängerin findet, der sich mit dir gesanglich messen kann, so wie bei Heather Woods Broderick, die schon lange in meiner Band ist und die ich sehr schätze, dann ist das eine besondere Sache. Meine Band-Mutter Devra Hoff, Bass-Spielerin, die so viele von den Hooks geschrieben hat, singt zum ersten Mal auf einem der Songs, den sie mit mir geschrieben hat. Mit Teeny Lieberson bin zusammen in der New York Szene aufgetreten, ich kenne sie seit fast 20 Jahren. Mit ihr zu singen, ist wirklich großartig, sie weiß genau, wann sie mich unterstützen soll.
MusikBlog: Ja, das klingt nach viel Spaß. Kannst du dir vorstellen, dass es dir auch einen Selbstvertrauen-Boost gibt, mit so vielen Leuten auf der Bühne zu sein, die gemeinsam singen?
Sharon Van Etten: Ja, und man kann einfach über die Bühne zu den anderen schauen. Manchmal braucht man jemanden, der sagt, dass alles gut ist.
MusikBlog: Vielen Dank für das Interview.