Tamara Lindeman, Frontfrau von The Weather Station, kann gleichzeitig rau und hoch singen und dann abrupt und mühelos in eine Alt-Stimmlage abbiegen. Dass es rundherum eine Band gibt, fällt auf deren siebtem Album „Humanhood“ erst nach 12 Minuten so wirklich auf. Was bis dahin passiert, kann mal als dezent umgarnte Solo-Show einordnen.
Für die Gesangstechnik, mit der die 40-jährige Kanadierin zugleich heiser und doch lebendig erzählt, gab es in den 1990ern einen Prototyp, Paula Cole, ihr bekanntester Song war „Where Have All The Cowboys Gone?“. Wie sie lässt Lindeman ihr Klavier zwischen Americana und Trip-Hop-Soul schwingen.
Tamara begleitet sich dazu in ätherischer Klarheit und mit der Lebhaftigkeit, die man von einer Shakespeare-Aufführung erwarten würde. Im dann einsetzenden Refrain der Single „Window“ ereignet sich so untypisch viel kakophonisches Gewusel, dass es an Fusionen aus Free-Jazz und Rock erinnert.
Diese Jazz-Vibes kommen nicht von ungefähr. Denn Instrumentalisten aus der Improvisations-Szene Torontos musizieren in The Weather Station zusammen. Sie sorgen für Sphärisches, für rumpelnde Drums, eine orientierungslos wirkende Klarinette, die als Leit-Instrument die Protagonistin irgendwohin zu lotsen scheint wie die Sirenen einst Odysseus.
Dabei entsteht der Eindruck einer Krise, was insgesamt zur Tonlage des Werks passt, zu klagen, Erschütterung auszudrücken, einen Zustand der Erregtheit und inneren Unruhe zu vertonen.
Warum man von der Band mitunter wenig hört, dürfte dabei auch an der spezifischen Erfahrung liegen, aus der sich das Album speist: Aus der Erfahrung der Dissoziation. Diese Art Spaltung des Bewusstseins dürfte belastend und anstrengend für den Menschen sein, der sie erlebt.
Der Schritt zurück ins Erfassen der Normalität ist dann ein verwirrender Moment. Ums Mysteriöse, Dunkle, um Verwirrtheit geht es der Weather-Station-Frontfrau so sehr, dass sie als Clou ein ganz besonderes Konzept ins Album hinein trägt:
Alle Stücke erzählen nur in genau dieser Track-Abfolge, wie sie sich auf der Platte befindet, was sie sagen will: Wie sie in diese Dissoziation hinein schlittert, sie durchlebt und zurück zur Verbindung mit der Außenwelt findet.
Aus diesem Vorgang eine Dramaturgie zu machen, besitzt so viel Charme wie Unverwechselbarkeit. Schließlich nimmt die Musik konsumierende Öffentlichkeit Track-Reihenfolgen in der Streaming-Ära eher als unverbindlich und zufällig war, und das wäre hier definitiv ein Irrtum.
Schon auf früheren Alben hatte sich die Singer/Songwriterin damit auseinander gesetzt, was ihre Generation aufwühlt. Dabei spielte stets eine autobiographische Übereinstimmung mit hinein. Tamara entwirft ihre Song-Fiktion auf Basis von Erlebtem.
Ende 20 taumelte sie in eine Phase der Depression, als die Scheidung ihrer Eltern sie sehr beschäftigte und beunruhigte. Jahre später entstand darüber die Platte „The Weather Station“. Als sie im Februar 2021 das Thema Klimawandel in ihr Album „Ignorance“ einsickern ließ, war sie damit in den englischsprachigen Ländern noch der Debatten-Welle voraus. Die Pandemie dominierte.
Während das Demonstrieren für den Planeten an Fahrt gewann, wurde Tamara zu einer gefragten Interview-Partnerin anglophoner Musikmagazine, die sie zur Fürsprecherin des Protests erkoren. Dem Thema Klima blieb sie treu, passend zum Bandnamen Wetterstation. Es floss ins Lied „Endless Time“ auf der Folge-Platte „How Is It That I Should Look At The Stars“ ebenso ein wie in den besagten Track „Neon Signs“ auf der aktuellen Scheibe.
„Es gibt mehrere Stränge, die in dem Song miteinander verwoben sind“, erläutert Lindeman, und das trifft immer wieder auf ihren Schreibstil zu. Einer dieser Stränge, sagt sie, sei „die Verwirrung, in einem Moment des Klimanotstands mit Werbung bombardiert zu werden“.
„Body Moves“ macht sich ebenfalls mehrere tragende Säulen zunutze. Lüge und Wahrheit zeichnen eine Ebene der Erzählung. Eine andere sei der Körper als „eine Konstante, die als Verräter oder vielleicht auch als Lehrer fungiert“. Psychosomatische oder somatopsychische Leiden hängen immer mit dieser Funktion des Körpers als Warn-System zusammen.
Angesichts dieses Blicks darauf, wie Menschen funktionieren oder auch mit Störungen zu kämpfen haben, stellt sich „Humanhood“ im Verlauf immer mehr als trauriges Album heraus.
In der Tradition der Folk-Revival-Künstlerinnen im Alternative-Rock- und Art-Pop-Milieu wie Leslie Feist, Ani DiFranco oder Fiona Apple lässt es sich gleichwohl als stimmungsreiches und starkes Werk einer intellektuellen Autorin hören, die nach den physischen Dimensionen ihrer Gedankenflut sucht.
Musikalisch erweist sich das Resultat manchmal als schräg, angespannt und nicht eingängig. Ein paar fragmentarische Interludes bremsen immer wieder den Fluss.
Andererseits lässt sich ein besonders langer Song, „Irreversible Damage“, als Lesung auf fiebrigen Lounge-Jazz-Broken-Beats auch einfach zur Entspannung hören. Hier singt Tamara nicht, sie redet. Ihre Worte sind zu leise unter’s Schlagzeug gemischt, als dass man auch nur ein einziges Wort verstehen würde, und die neutrale Stimmung bricht aus dem roten Faden der Platte ein bisschen heraus.
Was die Faszination ausmacht, brachte vor einigen Jahren der Blog „Psychiatry And Songs“ auf den Punkt: Als „Beobachterin von Innenwelten“ habe Tamara die „Tapferkeit zu sagen ‚Es tötet mich, und ich weiß nicht, wieso'“.
Diese Fahndung nach den düsteren Schatten auf der Seele macht in der Tat viel von der Dramatik bei „Humanhood“ aus. Großen Anteil an der intimen Wirkung der Musik hat aber mit Sicherheit auch die ausgesprochen schöne Stimme der Bandleaderin.