In einer verschneiten Landschaft käme das Doppel-Album „In Winter“ von The Unthanks besonders gut zur Geltung. Wenn Schnee in unseren Breitengraden im Dezember mal fällt, bleibt er oft nicht lange liegen. Das wusste schon das traditionelle Volkslied „The Snow It Melts The Soonest“, inzwischen 203 Jahre alt.

Die letzten Winter standen eher im Zeichen hoher Energie-Rechnungen für Licht in der dunklen Jahreszeit und fürs Heizen, wenn es kalt ist. Und zwischen Stressoren wie Black-Friday-Rabatt-Schlachten und Terminen für Firmen-Weihnachtsfeiern kommen wohl wenige Menschen wirklich zu der Art von Ruhe, die „In Winter“ voraussetzt. Vielleicht vermag aber eben genau diese Scheibe, sie zu beruhigen.

Es ist eine Kammer-Folk-Platte, die sich gut im Sessel vorm Kamin hören lässt. Aus der Zeit gefallen, fordert das Album in der Tradition mittelalterlicher Barden, dass man sich mit Muße den Geschichten widmet. „In Winter“ nutzt hierfür altertümliches Liedgut.

In der aktuellen Besetzung musizieren die singenden Schwestern Rachel und Becky Unthank aus der Nähe von Newcastle in Englands Nordosten zusammen mit Rachels Ex-Mann Adrian McNally, Tastenspieler (Produzent und Manager der Gruppe), dessen Schulfreund Chris Price als Gitarrist und Kontrabassist, Niopha Keegan als Geigerin, Fiddle-Spielerin und Hintergrund-Sängerin, einem Streichquartett und einem Session-Schlagzeuger.

Nahezu das gesamte Material hält sich in England schon viele Jahrhunderte lang. Die mitunter holprigen Formulierungen in all der Lyrik, die mündlich übertragen wurde, glänzen weniger als die edlen Töne der Musik.

Denn besonders spannenden Inhalt liefern die Texte nicht: Da wird dann pittoresk die Durchführung eines Kusses beschrieben oder das Pflücken von Kirschen von einem Baum im Garten, was bei uns ein Sommer-Thema ist, aber in Nahost spielt.

„Now Joseph was an old man, an old man was he / and he married Mary, the Queen of Galilee (…) now Joseph and Mary walking in the garden green.“ – In diesem Beispiel, „The Cherry Tree Carol“, adaptieren The Unthanks ein Traditional, das mit Maria und Josef und mit der Weihnachtsgeschichte der Bibel zu tun hat. Ob es bereits eine künstlerische Leistung ist, unzeitgemäßen Sprachstil fortzusetzen?

Das Adaptieren und Covern reizte die nordenglische Gruppe schon vor knapp 20 Jahren aus. Die damaligen Newcomer verzückten die britische Fachwelt und das Publikum auf der Insel von Anfang an mit autorenlosen, traditionellen Songs. Auch Klassiker von Nick Drake oder Robert Wyatt schrieben sie auf Harfe und Ukulele um.

Besser läuft es beim aktuellen Winter-Thema hingegen, wenn The Unthanks selbst einen Text schreiben wie bei „River River“ oder gleich den ganzen Song. Letzteres trifft nur auf den hymnischen Höhepunkt „Dear Companions“ zu. Dort zahlt sich die eigene Kreativität aus.

Ansonsten besteht der Ertrag wohl eher im Erzeugen einer Stimmung durchs Kombinieren zueinander passender Nummern. Jede einzelne bekommt ein eigenständiges Arrangement verpasst.

Dabei entstehen so gute wie schlechte Beispiele. Auf der Haben-Seite bezirzt eine wunderschöne Fassung von „O Tannenbaum“ auf Englisch, dominiert von Cello und Marschtrommel. Auch eine malerische Version des walisischen Stücks „Gower Wassail“ über die Segnung von Haushalten, anmutig vorgetragen, und ein geschmackvolles Über- und Nebeneinander-Schichten von Gesangs-Spuren in „River River“ laden zum Hinhören ein.

Ohne Stimmen kommen vier Instrumentals aus. Sie sind deutlich kürzer als die anderen Beiträge („God Rest Ye Merry Gentlemen“, „In The Bleak Midwinter“, das angejazzte „The Holly And The Ivy“ und „In Winter’s Night“).

Das Semi-Instrumental „O Come All Ye Faithfull“ mit einer atmosphärischen Collage aus Stimmengewirr und Kirchglocken beruht im Mittelteil vor allem auf introspektivem Klavierspiel, das nicht so recht auf ein Ziel hinaus zu laufen scheint und zur Besinnung anstiftet. Der Track endet mit einem kurzen Chor-Abschnitt.

Vier Titel enthalten das Wort ‚Carol‘, was im Englischen auch fürs ‚Lied‘ steht („Coventry Carol“, „Carol Of The Beasts“, „Carol Of The Birds“ und besagtes „Cherry Tree Carol“). Manche Darbietungen wirken kindlich und brav wie beim benoteten Vorsingen im Schulunterricht. Manches versandet in allzu dick auftragenden Arrangements, mutet altbacken, zäh, kitschig oder langweilig an.

Anderes klingt mit übertrieben lang gezogenen Tönen extrem nach Kirchenbank, wie „Nurse Emmanuel“, statt nach weltlichem Folk-Pop. Obschon die Platte der Unthanks-Schwestern ein Winter-Album und keine Weihnachts-Sammlung sein will, grenzt sie sich von sakralen Tönen nicht ab.

Über vier Minuten lang einer Chor-Vorführung a capella auf einer Platte zu lauschen, finden die Unthank-Schwestern beim Neujahrs-Gedicht ihres Vaters George, „Tar Barrel In Dale“, angemessen. Allerdings mag da keine Party-Stimmung aufkommen. Im Gegenteil, das Ganze strengt vor allem an.

So leisten die Folk-Puristinnen mit „In Winter“ einen durchwachsenen Ansatz zum Themenkreis Dezember, Kälte und Advent, der wenig Licht ins Dunkel bringt, insbesondere wenn man das englische Volksgut bisher nicht kannte.

Immerhin muss man der maximal eigenständigen Indie-Formation lassen, dass sich jetzt das Motto ihres alten Band-Namens bewahrheitet. Denn bis 2008 firmierte die Gruppe als ‚Rachel Unthank And The Winterset‘. Nun hat sie ein Winter-Set aus teils sedierenden, biederen und hölzernen, manchmal Herz erwärmenden, feierlichen und eleganten Bestandteilen geschnürt.

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