„Vicious Creature“ ist ein blendendes Beispiel dafür, dass in der Musikindustrie irgendetwas falsch läuft. Das erste Solo-Album der Chvrches-Sängerin Lauren Mayberry ist in Sound, Songwriting und Hit-Dichte ein großer Wurf. Bisherige Streamingzahlen passen so gar nicht zu der Qualität der Platte – und dann erscheint das Album auch noch im toten Dezember. Warum „Vicious Creature“ eigentlich ein Platz auf den Bestenlisten verdient hätte.
Viele Solo-Projekte etablierter Bands setzen auf reduzierte Sounds, die mehr Platz für persönliche Stories bieten. Aber warum sollte mehr Persönlichkeit nicht auch tanzbar sein? Lauren Mayberry bleibt mit ihrem Debütalbum dem Synth-Pop treu, die Betonung liegt nur noch mehr auf dem Pop als mit den Bandkollegen.
Dass hier keine Füße auch nur in der Nähe von Bremsen stehen, zeigt das Trio Infernale, das die Platte eröffnet: „Something In The Air“ ist noch Chvrches-Vibe der alten Schule mit weniger Synth-Dichte, dafür aber nicht mit weniger großem Refrain. „Crocodile Tears“ pulsiert mit wunderschönen Streichern direkt in den Club – und „Shame“ ist der Über-Hit, der mit 80s Vibes Feminismus vortanzt.
Überhaupt Feminismus: Da, wo Chvrches größtenteils politische Themen (zumindest auf den Alben selbst) umschiffen, ist „Vicious Creature“ ein durchweg offenherziges Abbild von Mayberrys starker Haltung, die sie auf Shows und bei Social Media längst kundtut.
Am besten zeigt das „Change Shapes“, das die komplexen Herausforderungen an FLINTA im Musikbusiness abbildet: Jedes Album braucht eine völlig neue, aufregende Identität in Sound und Auftreten – ganz im Gegensatz zu den Ed Sheerans der Welt.
Diesem dazu noch äußerst geschickt getexteten Inhalt steht das Album aber auch in der Produktion in nichts nach: Mit den Produzenten Dan McDougall, Ethan Gruska und Matthew Koma hat Mayberry einen glasklaren Sound gefunden, der sowohl bei den sanften Klavier-Momenten vom Tränen-Garanten „Oh, Mother“ als auch bei all den bebenden Beats auf Top-Niveau abliefert.
„Vicious Creature“ ist am Ende ein absurd gutes Album: Es ist wütend und töst („Sorry Etc.“), es kann Gänsehaut („Anywhere But Dancing“), es tanzt und tanzt und tanzt, ohne sich dabei völlig im Eskapismus zu verlieren.
Und es bietet am Ende damit eine gigantische Bühne für eine der tollsten Künstlerinnen der Indie-Welt, die endlich auch mal alleine im Rampenlicht stehen kann.