In den Untiefen des Musikjahres 2024 kristallisierte sich eine bemerkenswerte Dialektik heraus: Während die einen den Lärm zum Gebet erhoben, zelebrierten andere die Stille als letzte Bastion der Contemplation.
The Cure lieferten mit „Songs Of A Lost World“ sicherlich die größte Überraschung. Es war nicht nur ihr erstes Album in 16 Jahren, sondern bescherte ihnen auch zum ersten Mal die Nummer eins der deutschen Albumcharts sowie den ersten Platz in vielen Redaktionslisten. Im Dezember folgte dann gleich das Live-Album dazu.
Die Dubliner Post-Punk-Philosophen Fontaines D.C. lieferten mit „Romance“ ein Album ab, das wie ein stürmischer Liebesbrief an die verlorene Unschuld des Rock’n’Roll klingt und mit seinem modernen Genre-Mix urbane Elegien deklamiert.
Die australischen Lärmästheten Amyl And The Sniffers transformierten auf „Cartoon Darkness“ rohe Energie in rebellische Kunst – ein Crescendo der kontrollierten Explosion, das sie auch sehr überzeugend live transportierten.
Die deutsche Musiklandschaft zeigte sich vital: Die Nerven schrien mit Großbuchstaben „WIR WAREN HIER“ in die post-pandemische Leere, im schroffen Kontrast dazu webte Mine auf „Baum“ filigrane Klanggewebe, in denen sich elektronische Pulse mit organischer Poesie zu einem hypnotischen Tanz vereinten.
Die unerschrockenen Hamburger Newcomer*innen eat-girls destillierten mit ihrem Debütalbum „Area Silenzio“ urbane Einsamkeit zu einem betörenden Elixier, während Kettcar mit „Gute Laune ungerecht verteilt„, ihrem ersten Album seit sieben Jahren, erfreuten – und das, obwohl sie bereits 2020 aufhören wollten.
Nick Cave And The Bad Seeds beschworen auf „Wild God“ alte Dämonen in neuen Gewändern, das später wie ein kathartischer Urschrei durch die Konzerthallen hallen sollte.
Der Radiohead-Ableger The Smile schaffte es als erste Band in der MusikBlog-Geschichte mit gleich zwei Alben – „Wall Of Eyes“ und „Cutouts“ – in die Jahrescharts und bewies, dass experimentelle Musik auch im Anthropozän noch Seele haben kann.
Kim Deal verzauberte mit „Nobody Loves You More„, während St. Vincent mit „All Born Screaming“ die Grenzen zwischen Art-Rock und Avantgarde neu aushandelte und Charli XCX mit „BRAT“ inklusive acht (!) Grammy-Nominierungen nun endgültig im Hyper-Pop-Olymp angekommen ist.
Billie Eilish, das chamäleonhafte Wunderkind der Gen Z, führte mit „Hit Me Hard And Soft“ vor, wie man Pop dekonstruiert und neu zusammensetzt, als wäre es ein dadaistisches Puzzle, und überschritt dabei Genre-Grenzen so selbstverständlich wie eine Teenagerin die elterlichen Ausgehzeiten.
Einstürzende Neubauten sind mit einem neuen Album erstmals nicht in den MusikBlog-Redaktionscharts vertreten, offenbar hat „RAMPEN (apm: alien pop music)“ nicht alle überzeugt. Wenigstens ist Blixa Bargelds neue Platte mit Teho Teardo dabei.
Hier unsere Redaktionscharts 2024:
- Fontaines D.C. – Romance
- The Cure – Songs Of A Lost World
- Die Nerven – WIR WAREN HIER
- Amyl And The Sniffers – Cartoon Darkness
- Nick Cave And The Bad Seeds – Wild God
- Whispering Sons – The Great Calm
- The Smile – Wall Of Eyes
- Kettcar – Gute Laune ungerecht verteilt
- Cosmo Sheldrake – Eye To The Ear
- Kim Deal – Nobody Loves You More
- Billie Eilish – Hit Me Hard And Soft
- Bleachers – Bleachers
- Charli XCX – BRAT
- Mine – Baum
- Kim Gordon – The Collective
- Teho Teardo & Blixa Bargeld – Christian & Mauro
- Vampire Weekend – Only God Was Above Us
- The Smile – Cutouts
- Die Mausis – In einem blauen Mond
- Father John Misty – Mahashmashana
- St. Vincent – All Born Screaming
- IDLES – Tangk
- Tindersticks – Soft Tissue
- Joan As Police Woman – Lemons, Limes And Orchids
- eat-girls – Area Silenzio