Der Rapper Tyler, The Creator reizt auf seinem neuen Album „Chromakopia“ aus, wie weit sich ein dekonstruierendes Stück zur Erschütterung eines Tanzbodens eignet.

Das Bass-Gewitter „Balloon“ z.B. lässt rasend schnelle Stakkato-Spratz-Geräusche vier Mal unter die sakral klingenden Loops des Riddims jagen. Jedes Mal droht der Track auseinander zu brechen. Doch ab der ersten Salve hält ein intensiver Non-Stop-Chor doch alles gerade so zusammen. Blubbernde Höhentöne im Stile fiepender Telegramm-Maschinen aus alten Radio- oder TV-Nachrichten-Vorspännen wirbeln dazwischen.

Nach der zweiten Stakkato-Spritz-Explosion übernimmt eine agitiert wirkende Doechii und rückt in den Vordergrund. Erzählt, dass sie von einem Blödmann, einem „dumbass“, nichts wissen wolle, selbst wenn er Millionär wäre. Sie brauche ihn sowieso nicht, weil sie sich selbst versorge: „I don’t need you, ‚cause I already fuck me.“

Dabei verfüge sie trotz einer Größe von 1 Meter 58 über Körbchengröße A, was darauf anspielt, dass der Typ sie womöglich attraktiv finden und aufgrund der Schmähung tief getroffen sein könnte. Die 26-Jährige rappt sich in Rage. Sie kreischt, fletscht die Zähne, ihre Aufnahme wirkt übersteuert.

Dabei gilt Gastgeber Tyler, The Creator nur im zahlenmäßigen Sinne als Mainstream. Zumindest verlieh ihm die Washington Post bereits den Titel des größten Musik-Innovators. Fünf Jahre ist das her. Ein neues Genre, neue Technologien, neue Song-Themen, unentdeckte Instrumente oder sonst irgend etwas Einschneidendes blieb der „Innovator“ seither schuldig.

Um im aktuellen Hip-Hop als Figur zu gelten, die große Neuerungen in Gang setzt, braucht es auch in Produktion und Album-Dramaturgie offenbar erschreckend wenig. Eine Nummer wie „Darling, I“ ist wunderschön, aber auch wieder zum Gähnen. Würde man den Personen, die Tyler, The Creator wie eine Gottheit verehren, die Song-Bestandteile vorspielen, in denen man seine Stimme nicht oder nur verwaschen hört (in diesem Falle sind das die komplette erste Minute, eine weitere in der Mitte und die Schluss-Minute des Songs, also schon 80%, die gar keinen Rap enthalten), man würde verächtliches Schulterzucken ernten und gesagt bekommen, man solle mit diesem altmodischen Boomer-Quatsch aufhören.

Conscious-Hip Hop ist etwas anderes. Dieser beiläufige Wohltöner „Darling, I“ hingegen ist ein Musterbeispiel dafür, wie uns diese eigentlich revolutionäre Musikform überhaupt nicht aus der Berieselung des ewigen Streaming-Nachschubs reißen soll, sondern am besten niemanden inhaltlich juckt.

Zumindest gibt es, was den Elektro-Funk angeht, ein paar musikalische Auffälligkeiten, etwa im überdrehten Spiel an der Synth-Orgel gegen Ende von „I Hope You Find Your Way Home“. Erfinderisch oder ungehört ist so etwas aber nicht, nur vergessen.

Ein E-Piano, aufgenommen in Lo-Fi-Qualität, wirkt in „Like Him“ wie ein John-Lennon-Demo mit der Schläfrigkeit eines John Legend, einer Vocoder-Stimme im Stile der 70er, wieder Barry-White-Schlafzimmer-Atmosphäre und Lola Young als Gast.

Die Vielzahl an Zutaten und Sound-Farben kann man mit viel Sympathie als eklektisch feiern, aber auch als unentschiedene Masse von Eindrücken und Einfällen. Eine wirklich herausgearbeitete Stimmung bleibt nicht haften, außer das Gefühl, lost zu sein. Aber das mutet diffus an.

Sechs Mal „Nigga(s)“, vier Mal „Bitch(es)“, das sind die Schlüsselwörter für „Noid“, den mit fast 33 Millionen in drei Tagen meistgeklickten Song auf Spotify. Innovator?

Der Jazz-Rap-Tune „Hey Jane“ setzt sich mit der Reizüberflutung eines über 30 Gewordenen auseinander, der nicht so recht weiß, warum um ihn herum alle Kinder haben und er an einem anderen Punkt in seiner Entwicklung stehe. Aber er möchte auch nicht rückblickend etwas bereuen müssen. Diese Gedanken-Projektion aus der Zukunft in die Gegenwart, die dann Vergangenheit sein wird, stresse ihn. Musikalisch fallen der nachdrückliche und doch auch gefällige Flow in Tylers Wortschwall und gelegentliche Marschtrommel-Takte auf. Das Lied endet mit einem autosuggestiven Aufruf: „No pressure!“

Jazz-Rap findet mehrmals statt, Drill-Anklänge gibt es zweimal inmitten der 14 Stücke. Ein Gesamt-Konzept erwächst aus solchen Gegensätzen hier leider keines. Mehr Vision hätte „Chromakopia“ gut getan, denn da die Leute sowieso neugierig auf den Namen klicken, hätte Tyler, The Creator auch etwas riskieren können, was es nicht schon tausendfach gab.

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