Es ist einfach schleierhaft, wie die Veranstalter*innen vom Reeperbahn Festival das machen – jedes Jahr fällt zumindest der Anfang auf spektakuläres Wetter.
Mittwoch
Langsam beginnt sich das Festival Village am Heiligengeistfeld entspannt zu füllen. Die längste Schlange konstant am Aperol Stand. Bei schönstem Sonnenschein beginnt Ada Oda im Hangar. Indie-Party mit italienischem Comedy Touch als gemütlicher Einstieg.
Auf dem Weg zum Molotow schon die erste Überraschung. Skuppin im St. Pauli Fanshop. Gut gängiger Dark-Wave, nette Elektronik und super passende Stimme. Atmosphäre so entspannt wie es nur sein kann. Außenrum shoppen etwas verblüffte Touristen St. Pauli Devotionalien.
Erster geplanter Gig – Pacifica im Molotow Backyard. Die Aufregung steht ihnen ins Gesicht geschrieben, die Begeisterung auch. Ihre Riffs gehen ab der ersten Minute in die Beine. Die beiden Argentinierinnen strahlen eine unheimliche Sympathie aus. Das Festival hat begonnen.
Kurz später mary in the junkyard im Molotow Club. Lieblich hohe Stimme trifft auf angenehmen Druck. Ihr Sound wird sukkzessive dichter, die Drums arrhythmischer. Gitarren wetteifern mit Geige. Erfrischend eigenständig. Die Bassistin stiehlt Sängerin Mary ein klein wenig die Show.
Bei SNAYX im headCRASH ist es vorbei mit lieblich. Gitarren braucht kein Mensch. Schlagzeug und Bass reichen vollkommen aus, um die Stimmung zu eskalieren. Brachialer Punk zwischen traditionell und modern. An der Bühnenkante strotzt es nur so vor Testosteron, die weibliche Energie an den Drums steht den beiden Jungs keinen Millimeter hinterher.
Abschluss erster Tag – Lambrini Girls im Indra. Covid-bedingt mit Ersatzfrau am Bass. Würde nicht auffallen, wenn man es nicht wüsste. Mit ihrem einfach strukturierten Punk ziehen sie alle Register der Unterhaltung, gefühlt mehr im Publikum als auf der Bühne. Frau hat nicht nur Meinung, sie schreit sie hinaus. Palästina, Gender-Safety in der Musikszene, das Aufkeimen der rechten Bewegungen, Rechte von Trans-Personen und als Britinnen natürlich JK Rowling. Politik der treibende Faktor, Musik der Träger.
Donnerstag
Früher Nachmittag bei schönstem Sonnenschein im Molotow Backyard. Marathon statt Mittagessen. Es dauert nicht lange, bis ihr dröhnendes Intro kracht. Gewaltiger Post-Punk mit Shoegaze-Einflüssen aus den Niederlanden. Die fünf wollen keinen Schönheitspreis gewinnen, die Musik zählt. Die Leute im Office daneben schauen erstaunt vom Balkon.
Rein in den Molotow Club zur Band mit dem coolsten Namen – The Klittens. Fetter Sound zwischen Post-Punk und Garage vor großer Palästina-Fahne. Auftreten einer (fast) erwachsen gewordenen Schülerinnenband. Berührend intimes Duett, Kuscheln an einem Mikro. Zum Ende ziehen sie deutlich an, wären alle Stücke gewesen wie die letzten zwei, hätte der Saal getobt.
Ungeplante Überraschung: Personal Trainer im Molotow Backyard auf dem Weg zum Burgergrill. Knackiger, ungewöhnlicher Rock mit düsteren Passagen und stellenweise sehr dominantem Saxophon. Die Bühne und der Sound gut gefüllt mit sieben Leuten. Der Backyard ist jetzt schon rappelvoll und alle bester Laune. Erster Anflug von Wehmut – diese einzigartige Location wird es bald nicht mehr geben.
Family Battenberg fällt als einzige Band des Festivals dem Einlass-Stop zum Opfer, der Sommersalon viel zu klein für den Andrang, die Schlange zu lang. Ihr Garagen-Rock klingt auch draußen noch gut.
Luzine im Stage 15 wirft die Frage auf, wer denn „düster“ und „Post-Punk“ ins Programm geschrieben hat. Bester Elektro-Pop, so tanzbar wie es nur geht. Schade, dass der Sound ihre Stimme sehr in den Hintergrund schiebt. Luzine strahlt jede Sekunde, authentisch und unglaublich sympathisch.
DVTR im Uwe sind gekommen, um uns „in den Arsch zu treten“. Und genau das tun sie. Krachiger Elektro-Punk und schier endlose Energie auf der Bühne. Der Krankenhaus-Kittel der Frontfrau ist Programm, alle Zweige sind hier ganz sicher nicht mehr an der Tanne.
Nathalie Froehlich in gut gefüllter Prinzenbar. Sehr einstudiert und wenig authentisch rappt sie los. Ihr sexy Entblättern verblüfft bei ihrem autonom feministischen Hintergrund. Mit einem Schlag wäscht sich das Training aus, die Wut ist da. Authentizität wieder hergestellt. Quantität der politischen Ansagen hält locker mit den Lambrini Girls mit. Mehrfach ein Ende des Gigs simuliert, um noch einen draufzulegen. Von Anfang bis Ende Remixe und Medleys ihrer Stücke, nichts bleibt wie auf den Aufnahmen. Brachial schneller Rap auf Englisch und Französisch über elektronischem Sound, der ihre Herkunft aus der Schweizer Rave-Szene deutlich hören lässt. Der Raum tobt. Durchgeschwitzt, erschöpft und glücklich.
Zum Ende Meltheads im Kaiserkeller. Ihr Post-Punk kracht gewaltig und kennt nur eine Richtung – nach vorne. Der Frontmann gibt alles, um emotional zu erscheinen. Leider etwas zu bemüht und es kommt bis zum Ende wenig im Publikum an.
Freitag
Der Freitagnachmittag beginnt nochmal mit Nathalie Froehlich auf der Spielbude XL. Die größere Bühne tut ihr und den beiden Tänzerinnen sehr gut, das gemischte Publikum kommt nicht an den Abend davor ran. Der komplette Gig neu gemixt, ziemlich beeindruckend. Wut kann so musikalisch sein.
Nach etwas längerer Pause der nächste Swiss Showcase Gig auf der Spielbude XL – Crème solaire. Elektro-Punk mit Urgewalt. Wenn Frontfrau Rebecca sauer ist – rennen. Einfach nur schnell rennen. Kontrast dazu überall Blumen, auf den Hosen, in der Projektion, in den Texten. Aber immerhin zerstören diese Blumen den Beton auf der Welt und machen alles besser.
New Dad im Uebel & Gefährlich machen soliden Indie. Wenig Neues, aber der Raum ist gut gefüllt und sie kommen gut an.
Güner Künier überzeugt im Angie’s. Aufgeregt, weil sie erst seit ganz kurzer Zeit mit Band spielt. Und das funktioniert super. Dunkler Postpunk, metallischer Noise aus ihrer Gitarre und total unprätentiöses Auftreten. Düstere Schleifen rollen gefühlt endlos durch den Raum, ab und zu unterstützt durch elektronische Klänge, die an Automatic erinnern.
Zurück ins Molotow. Bracco im Karatekeller. Die erste und einzige Band ohne Frau auf der Bühne. Eine Batterie Synthies und ein Wahnsinniger an Mikro und Gitarre. Schnell nur in Unterhose. Das Mikrofon abwechselnd komplett im Mund oder in der Unterhose, wenn er beide Hände braucht. Die Gitarre mit Drumstick geschlagen und nicht gespielt. Ekstatisches Krümmen am Boden. Erinnert stark an die Urzeiten des Industrials a la Psychic TV. Ohrenbetäubend, verstörend und extrem mitreißend. Was für ein Raum ist dafür authentischer als der kleine, dunkle, stickige Karatekeller. Eine Schande, dass hier bald ein Lindner Hotel stehen wird. Zum Glück kommt nach Bracco nix mehr, die Aufnahmefähigkeit haben die zwei überreizt.
Samstag
Letzter Tag. Zum Start zur Eröffnung der neuen Georg Elser Halle im Bunker. Nach der langen Wanderung nach oben erwartet uns eine sterile Multifunktionshalle. Technisch auf dem allerneuesten Stand, riesig. soffie liefert TV kompatiblen Pop und kommt damit gut an. Die Schlange vor der Türe hält sich bis zum Ende. Die Menge an Fernsehkameras ist beeindruckend.
Voodoo Beach im Indra. Der Name verleitet dazu, im Programm weiter zu scrollen. Die zwei wissen ganz genau, was sie tun. Geschrammel gibt es hier nicht, sehr akkurate Kompositionen, pointiert gespielt und im Klang super trennscharf. Die Basslininen erinnern an LeVent. Dass der Schlagzeuger als Notfall eingesprungen ist, würde niemand merken.
Molotow Skybar, SMILE. Die Kölner*innen beginnen „geräuschig“, der Bass wird geklopft, die Gitarre schrammt am Monitor. Das Wummern entwickelt sich zu ziehenden und zerrenden Noise-Teppichen. Und der Gesang setzt dem Ganzen die Krone auf. Rubee bleibt meistens an der Grenze zum Sprechgesang, repetitiv. Manchmal geht’s mit ihr durch und ihr Schreien tut emotional weh. Die wütende Hohepriesterin der Anxiety. Dunkelschwarz und fatalistisch. Hoffnung gibt es keine mehr, dafür eine neue Nummer 1 der Woche.
Ähnlich schwarz kommen Stereotype im Angie’s daher. Zwei junge Damen, aus der illegalen Teheraner Alternativ-Szene nach Frankreich ins Exil geflohen. Elektronischer Sound ohne Hoffnung, aber mit Widerspruch. Schmerzvoll tanzbar. Alleine der Blick könnte Regime stürzen. Die schwarze Armbinde versteht sich von selbst.
Zurück ins Molotow, Abschied feiern. eat-girls im Karatekeller. Die Schüchternheit bleibt zum Glück nicht lange, der Funke springt über. LoFi-Sound in mehreren Schichten. Sperrig und eingängig zugleich. Bedrohlich und besänftigend wabern die Klänge. Das Publikum honoriert jeden Noise-Ausflug mit tosendem Szene-Applaus wie bei einem Jazz Konzert. Wohlverdient. Ein würdiger Abschluss für dieses Jahr. Und sollten wir in den nächsten drei Monaten vor der Schließung nicht mehr dort sein – ein mehr als nur würdiger Abschied vom Karatekeller.
Vier Tage, 23 Bands und ein paar Blasenpflaster später erscheint die Welt etwas heller. Das mit Abstand politischste Reeperbahn Festival ever. Die Situation in der Welt macht es notwendig, Dinge konkret und sehr laut auszusprechen. Oder hinauszuschreien. Implizite Kritik reicht den meisten Bands heute nicht mehr. Es gab kaum einen Gig, ohne Meinung sehr deutlich zu transportieren. Und das nicht nur von explizit politischen Bands wie Lambrini Girls oder Nathalie Froehlich. Das macht Mut.
Vielen Dank an die perfekte Organisation, die das ermöglichte.