Trotz des Quecksilbers im Namen lässt sich Mercury Rev kein Gramm Toxizität bescheinigen. Süß, schnuckelig, verträumt und idyllisch säuselt nach langer Pause wieder eine neue Platte. „Born Horses“ ist ein Album für die Nacht, den Blick in die Gestirne am Firmament und ein Soundtrack für Wünsche, die man bei Sternschnuppen ersinnt.

Bis heute hat sich nichts daran geändert: Der Durchbruchs-Song von 1999, „Goddess On A Highway“, gilt wie ein Autogramm und steht für die Rezeptur der Band. Nach einem Vierteljahrhundert und 12 Longplayern mit eigenen Kompositionen rotieren keine anderen Lieder als das genauso alte „Holes“ und eben jenes über die „Goddess“ öfter durch die Streaming-Dienste.

Dabei vertonen Jonathan, Sean und ihre wechselnden Mitstreiter seit jeher gerne Melancholisches auf schnellem Tempo. Ein ähnliches Muster fanden später Metronomy. Wo bei Metronomy aber die Synthesizer-Spielereien einiges von der Rezeptur ausmachen, war es bei Mercury Rev stets das Orchestrale, gekreuzt mit dem Psychedelischen. Das bleibt jetzt so.

Exemplarisch dafür ist z.B. die Querflöte am Ende der fünften Minute im Opener „Mood Swings“, wobei solche Ton-Zutaten dieses Mal seltener synthetisch erzeugt oder geloopt werden. Früher behalf man sich mit dem Tettix Wave Accumulator, einer selbst konstruierten Datenbank für Imitate. Die hat man zwar durchaus erneut hier und da bemüht, aber schon „All Is Dream“ – ein wichtiger Longplayer der Gruppe – bot viel Personal auf und konnte damit faszinieren.

Dafür sorgen auch jetzt wieder neue Mitglieder: Jesse Chandler rückt mit Vibraphon, Mellotron, Flöte und mehr an. Marion Genser greift in die Tasten von Harmonium und Orgel. Sechs Session-Musiker bereichern das Geschehen um weit mehr als man für Rockmusik braucht. Von A wie Akkordeon bis V wie Violine.

Die vielen Klangquellen, Instrumente und Verzierungen tragen zu einem Dickicht bei. Zeitweilig ist die Klangfülle kolossal und erdrückt einen. Liebenswert ist diese enorme Sättigung dennoch, dieses Schöpfen aus dem Vollen.

Mercury Rev, einst Abspaltung der Flaming Lips, inszenieren in ihrem fast schon kitschigen Luxus sozusagen Barock-Pop. Trotz Schwermut und schlaftrunkener Traumneigung entsteht ein heller Eindruck, so, als ob sie ein Feuerwerk zündeten. Zudem trifft die hohe Stimme von Mastermind Jonathan Donahue auf hoch transponierte Stücke, und zusammen erzeugen diese Höhentöne eine einladende Wirkung.

Mit Farben zu spielen, ist auch Mercury Revs Absicht und Klaviatur. So bezieht sich etwa der Track „Patterns“ auf den Pop-Art-Pionier Jackson Pollock. Der bedeutendste Vertreter der pointillistischen Strömung in der Bildenden Kunst findet in „Born Horses“ seine synästhetische Entsprechung in der Musik.

Mercury Rev tropfen Töne so in ihre mitunter ziemlich langen Songs, wie Pollock in seinem Action Painting Farbe regnen und spritzen ließ. Für dieses Malen von Liedern nutzen die Amerikaner gerne Lied-Strukturen nach dem Modell der Suite. Gemäß diesem Format aus der Klassik bewegt sich etwa „Everything I Thought I Had Lost“ durch mehrere Phasen:

Los geht es mit einem Präludium. Da spricht Donahue auf ein recht improvisiert wirkendes Instrumental-Intro. Gesang? Fehlanzeige! Dieser erste Abschnitt teilt sich in eine zarte Minute und eine Minute Gewusel mit penetranten Blechbläsern. Man könnte Ouvertüre dazu sagen. Anderthalb stürmische Minuten folgt dann ein Kampf der Instrumente untereinander und lässt erstmal keinen Platz für die Stimme.

Im Barock hätte man Passacaglia dazu gesagt, denn das Ganze ist getragen, schwermütig im Grundton. Auf eine ruhigere, gleichmäßigere Minute folgt eine eruptive Entladung mit allerhand Krach, die dann Motive dieser Passacaglia wieder aufnimmt und Jonathan verstummen lässt. Ein Finale voller Tuschs und Trommelwirbel rundet die Suite ab.

Es ist, als würde man im Theater sitzen. Spannend, fast schon anstrengend zuzuhören, kann man ein Gefühl der Katharsis erleben. Es ist nur so, dass sich zwischen all dieser Jazz-Inspiration und der erkennbaren Soundtrack-Expertise nie wirklich eine Melodie aufschnappen lässt, die dann im Ohr bleiben würde. Sich aufs Wesentliche zu beschränken, wie es Nilüfer Yanya es diese Woche auf „My Method Actor“ vorbildlich zeigte, das fehlt.

Die Art und Weise, wie diese dick aufgebrezelte Musik einen flutet, kommt ungefähr einer Geschmacksexplosion gleich, wie bei einer modular zusammengestellten Süßspeise: Jeweils ein cremiger Bestandteil, etwas Fruchtiges, eine schokoladige Komponente, eine streuselartige Zutat, etwas, das knistert beim Kauen – nach diesem Muster scheinen Mercury Rev „Born Horses“ gebaut zu haben.

Der Traum vom Fliegen, der Fokus auf Vögel und Himmelsgestirne ist dabei der rote Faden durch die allzu vielen Worte. Der Blick ins Universum war den Dream-Pop-Schöpfern wichtig, auch über schwer Vorstellbares zu sinnieren. „Wenn wir (…) alle Galaxien sehen könnten, die sich umeinander drehen, würden wir die Ordnung darin erkennen“, sagen Mercury Rev. Die Frosch-Perspektive wählt die Band dagegen seltener, obwohl Bandmitglied Sean Mackowiak sich Grasshopper nennt.

Es lässt sich drehen und wenden, wie man will: Die liebevolle Detail-Arbeit, die in diesem Ton-Konstrukt steckt, wird nervtötend in all den Ohren ankommen, die mit dem Jazz-Instrument nichts anfangen können. „Born Horses“ ist im besten Sinne eine Zumutung. Eine nett gemeinte!

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