Auf einmal steht er da – Jochen Distelmeyer. Er greift nach einer der vier akkurat nebeneinander aufgereihten Akustikgitarren und füllt den Raum mit den ersten Akkorden von „Zurück Zu Mir“. Draußen vor dem Frankfurter Zoom regnet es in Strömen, doch das spielt für die nächsten zwei Stunden keine Rolle.

Schon vor Beginn der kleinen, sechs Konzerte umfassenden, Tournee, war viel über Jochen Distelmeyer und die Hamburger Schule gesprochen worden. Dieser waren im Sommer nicht nur ein neues Buch, sondern auch eine zweiteilige ARD-Doku gewidmet worden – Zündstoff für Debatten.

Die Hamburger Schule, Deutschlands womöglich letzte politische Musikbewegung, polarisiert noch immer die Gemüter der Szene. Wer hat’s erfunden? Wer gehörte dazu? Und wie progressiv war man damals in den frühen 90ern eigentlich wirklich?

Dass der ehemalige Blumfeld-Frontmann Jochen Distelmeyer eine prägende Figur dieser Zeit war, scheint dabei aber unbestritten. Auch wenn er sich selbst an all den Debatten nicht beteiligt, wird er gerne und häufig zitiert.

Dass ihm diese Rolle – „Das Leben im Zitat“ – vermutlich gefällt, zeigt auch der Abend im Zoom, der vor Anspielungen und Zitaten nur so wimmelt. Der 1967 in Bielefeld geborene Musiker erweist sich einmal mehr als Meister der Intertextualität.

Für „Der Mond“ – ein Stück des 2022 erschienenen Albums „Gefühlte Wahrheiten“ – legt Distelmeyer seinem Publikum gegenüber die Quellen offen. Die Songs von Jodie Sands („Kiss By Kiss“) und Ella Fitzgerald („Embraceable You“) hätten ihn im Songwriting begleitet.

Eines der Highlights am gestrigen Abend ist „Tanz Mit Mir“. Die Performance, die Distelmeyer liefert: atemberaubend. Er singt und pfeift, seine Gitarre dient ihm nebenbei als Schlagzeug. Und noch immer im Groove landen wir plötzlich bei „Nature Boy“ von Nat King Cole.

Dass Jochen Distelmeyers Stimme auf Deutsch wie auf Englisch funktioniert, ist seit seinem Cover-Album von 2016 bekannt. Daraus spielt er das von Britney Spears übernommene „Toxic“, das die knapp 100, nun zum Mitmachen ermunterten, Fans im Zoom in Wallung versetzt.

Vom Meister angeleitet, zitiert das Publikum „The Ghetto“ von Donny Hathaway, während Distelmeyer den Refrain von „Toxic“ wiederholt. Kann sich irgendwer dem Rausch dieses Augenblickes entziehen? Und denkt jetzt noch irgendjemand an die Hamburger Schule?

Es ist daher nur folgerichtig, dass Jochen Distelmeyer eine ganze Batterie von Zugaben spielt, darunter das wundervolle „Regen“ von 2009. Und auch einige Blumfeld-Hits („Graue Wolken“, „Wir sind frei“) werden jetzt auf die Bühne gebracht.

Nach einem Beatles-Cover („The Long And Winding Road“), dem von Nick Lowe übernommenen „I Read A Lot“ kommt noch ein letzter Distelmeyer-Song („Ich Sing Für Dich“) – und dann, so schnell wie er gekommen ist, verschwindet er in den Katakomben.

Ein paar Verstreute ergattern noch die letzten Platten am Merchandise-Stand, die Distelmeyer allesamt signiert. Beseelt und erschöpft machen sich dann auch die Letzten auf den Weg – hinaus in die echte Welt, hinaus in den Frankfurter Nieselregen.

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