Mag man groß gedachte Konzepte in der eigenen Lieblings-Popmusik genauso wie „viel hilft viel“ und Komplexität, theatralische Strukturen und gleichzeitiges Durchbrechen jeglicher Strukturen, ist Christine And The Queens seit über zehn Jahren die Anlaufstelle schlechthin.

Der nicht-binäre Act, der männliche Pronomen bevorzugt, verliert sich in seinen Alben und auch darüber hinaus gerne in Alter Egos und Rollen, mit denen das Erforschen von Konzepten und Themen viel leichter von der Hand geht.

Angefangen beim Künstler-Alias Christine über die Queens, die für eine Dragqueen-Gruppe aus New York stehen, die Christine vor Jahren entscheidende Anstöße zum Erforschen und Hinterfragen seiner eigenen Identität gab.

Im 2022er Vorgängeralbum „Redcar Les Adorables Étoiles (Prologue)“ war Christine noch die titelgebende Kunstgestalt Redcar, die sich selbst anzweifelte und sich mit der Vergänglichkeit des eigenen Lebens konfrontiert sah. Dem Namen nach handelte es sich aber lediglich um einen Prolog, um den Anfang eines größeren Narrativs, das „PARANOÏA, ANGELS, TRUE LOVE“ nun umsichtig weitererzählt.

Das 20 Songs starke Album ist in vielerlei Hinsicht von Theater und Dramatik inspiriert: Die Dreifaltigkeit des Titels ist grob in der Struktur der Platte wiederzufinden und Christine nennt das Pulitzer-ausgezeichnete Bühnenstück „Engel in Amerika“ von Tony Kushner als gewaltige Inspiration.

Christine verarbeitet das Ende einer Beziehung sowie einen Todesfall in seinem näheren Umfeld, was zu philosophischen, mental auslaugenden und schmerzhaft persönlichen Ausflüchten führt. Das sorgt dafür, dass ein nicht unerheblicher Teil der 20 Songs sich nicht um typische Pop-Strukturen oder leicht verdauliche Formate schert, sondern einfach nur propagieren, klagen und den Schmerz herauslassen möchte.

Nach wie vor ist Christine von soft-rockigem Pop der 80er inspiriert. Genau wie die Vorbilder ist „PARANOÏA, ANGELS, TRUE LOVE“ betörend, lasziv und düster, dann aber auch nachdenklich, zärtlich und ultimativ sehnsüchtig.

Mit den Kollaborationen schließt sich sogar der 80er-Kreis: Neben Produzent Mike Dean und der US-amerikanischen Rapperin 070 Shake ist ausgerechnet Pop-Legende Madonna in gleich drei Tracks zu hören und bereichert den so schon dichten Sound.

Durch den watet Christine entweder schwerfällig mit obskur anmaßenden Melodien, mit hohem, wild spirituellen Gesängen oder zeitweise auch mit entkräfteten Spoken-Word-Sektionen – optimal eingesetzt und immer mitreißend.

Das ist auf solch einem langen Album kein Zuckerschlecken, folgt doch ein Spannungsbogen dem nächsten, so dass quasi kein Moment dem vorherigen gleicht. Christine lebt Veränderung und Dynamik.

Davon findet man auch musikalisch Unmengen, wenn etwa in einem Moment sonnige, leicht angejazzte Klavierakkorde tönen, im nächsten eine Roboterstimme durch die Luft sägt und sich im folgenden Augenblick wieder himmlische Gesangsmelodien zu sphärischen Klängen gesellen.

Möchte man „PARANOÏA, ANGELS, TRUE LOVE“ nicht einfach mit offenem Mund folgen und sich fallen lassen, mag angemerkt sein, dass die Aufmerksamkeit über solch eine Zeitspanne früher oder später leidet, wie gut die Songs auch sein mögen.

Gerade bei solch hoch komplexen Soundkonstruktionen auf 90 Minuten Länge ist das Konzept von „viel hilft viel“ maximal ausgereizt und der Kopf schaltet ab. Allerdings spricht das Album solch tief gelagerte Emotionen an, dass ein aufmerksamer Geist gar nicht nötig für den Genuss ist.

„PARANOÏA, ANGELS, TRUE LOVE“ lässt Christine weiter theatralisch und dramatisch im Existenzialismus toben. Ein Werk, in das es sich lohnt zu versinken – ob mit Kopf oder mit Bauch voran.

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