Wir hatten viele Ideen, aber keine davon war ein Song – Shame im Interview

In der Post-Punk-Bubble gehören shame zu den absoluten Lieblingen – auch weil sie das Spiel aus eingängigen Melodien und komplexen Strukturen beherrschen. Mit „Food For Worms“ will die Band aus London ihre eigenen Regeln nun neu schreiben. Einflusspunkt Nummer eins – Das Live-Erlebnis, das beim Quintett ohnehin immer im Zentrum steht. Im Interview führt Gitarrist Eddie Green in die ungewöhnliche Entstehungsgeschichte einer Platte, die die Angst vorm leeren Papier mit improvisierten Setlists, intensiver Freundschaft und Experimentierfreude besiegt hat.

MusikBlog: Hi Eddie, freust du dich schon auf den Releasetag?

Eddie Green: Ja, es ist gerade die Zeit der Vorfreude – auf die Tour und auch auf die Veröffentlichung selbst.

MusikBlog: Ihr habt noch nie so schnell so viel Musik geschrieben wie für dieses Album. Hatte diese sehr komprimierte Songwriting-Zeit auch Einfluss auf euren Sound und die Lyrics?

Eddie Green: Ich denke schon. Für uns war dieses Post-Lockdown Kreativitätsloch echt ein Problem. Ein Jahr lang haben wir versucht, etwas zu schreiben. Wir hatten hunderte von Ideen, aber keine davon war ein Song. Da waren wir einfach viel zu selbstkritisch. Dann haben wir uns irgendwann mit unserem Team zusammengesetzt und unser Management schlug vor, dass wir einfach mal ein kleines Konzert in einem lokalen Venue spielen, ohne Druck, aber mit einer komplett neuen Setlist. Das haben wir dann öfter gemacht, was dazu geführt hat, dass wir offener für einfache Strukturen wurden. Nach dem zweiten Album hatten wir das Gefühl, Komplexität sei ein Maßstab für Qualität. Dieses Album ist jetzt offener für Einfachheit und Leerstellen.

MusikBlog: Passend dazu sind auf dem Album jetzt viele große Chöre und Refrains enthalten, das wird live bestimmt beeindruckend.

Eddie Green: Dadurch, dass wir die Platte quasi live geboren haben, sind diese übergroßen Refrains ganz natürlich entstanden. Als wir mit diesen Songs herum experimentiert haben, konnten wir sie ja nur anhand der Reaktion des Publikums bewerten. Aufgrund dieses Ursprungs sind die größer klingenden Songs auch auf der Platte gelandet.

MusikBlog: Du sagtest ja, dass ihr sehr viele Songs bei diesen experimentellen Konzerten gespielt habt – aber natürlich haben es nicht alle auf die Platte geschafft. Wollt ihr die anderen komplett verwerfen?

Eddie Green: Es kommt immer irgendwann die Zeit, an der man manche Ideen loslassen muss. Im ewigen Zurückblicken steckt eine gewisse Gefahr. Auf ein paar Ideen kommen wir vielleicht nochmal zurück. Aber ich muss sagen, dass ich diese Ära beim Start des nächsten Albums hinter mir lassen will.

MusikBlog: Gab es denn dann überhaupt ein alles überspannendes Konzept, wenn die Songs so spontan entstanden sind?

Eddie Green: Die Songs sind sehr introspektiv, viele von ihnen drehen sich um unsere Beziehungen zueinander. Das zweite Album war eher ein persönliches für Charlie (Charlie Steen, Sänger, Anm. der Redaktion), das erste ein Kommentar zur Gesellschaft. Dieses ist weit entfernt von einem Konzeptalbum, aber es gibt wiederkehrende Themen rund Freundschaften und das Erwachsenwerden.

MusikBlog: Wo wir über Freundschaft reden – hatte dieser neue Songwriting-Ansatz auch einen Einfluss darauf, wie ihr eure Freundschaften zueinander jetzt wahrnehmt?

Eddie Green: Auf eine Weise schon. In den letzten Jahren gab es viele Dinge, die unsere Dynamik verändert haben. Vor allem hat uns dieser neue Ansatz aber unser Selbstbewusstsein zurückgegeben, nachdem wir so lange keinen Song vollendet hatten. Aber es hat mich auch dazu gebracht, meine Beziehung zur Band zu überdenken. Es hat sie auf jeden Fall gestärkt. Dieses Album hat uns einfach daran erinnert, dass wir gut in dem sind, was wir machen.

MusikBlog: Würdest du sagen, dass der dreckige Albumtitel auch in Bezug zum Sound steht?

Eddie Green: Ja, der Albumtitel bricht alles auf seine einfachste Form herunter: Menschlichkeit. Du stirbst, dann kommst du in die Erde und wirst „Food For Worms“. Dieser Slogan bringt alles auf den Punkt. Konzeptuell zeigt es auch, wie wir das Album geschrieben haben.

MusikBlog: Im Kontrast zu dieser Einfachheit, über die du sprichst, steht euer Bezug zu Lou Reed und Blumfeld. Die sind ja eher nicht für schlichte Texte bekannt – an welcher Stelle kamen denn die Lyrics dazu?

Eddie Green: Wenn wir zusammenschreiben, hat Charlie immer die richtigen Worte im Hinterkopf. Einige Sänger*innen murmeln ja erstmal Unsinn vor sich hin, aber Charlie hat immer direkt Ideen. Charlie schreibt Lyrics ohne Backingtracks, er hört uns einfach zu und weiß genau, was dazu passen könnte.

MusikBlog: Diese experimentelle Herangehensweise hat auch ein paar neue Sounds bei euch eingeführt, zum Beispiel diese Verzerrung im Song „Six-Pack“. Gab es durch diesen Ansatz, dass beim Livespielen ja eigentlich nichts für die Ewigkeit ist, mehr Freiheiten, einfach loszuspielen?

Eddie Green: Ja, es gab uns eine gewisse Freiheit. Es musste nicht alles glatt geschliffen sein. Es war sehr erfrischend, wir konnten neue Ideen und Sounds erkunden. Und das direkt auf der Bühne. Denn so wussten wir direkt, dass die Songs nicht nur live, sondern auch im Studio gut klingen mussten. Normalerweise läuft das ja andersherum ab. Du bist immer auf der Jagd nach diesem Sound, den du im Studio mit 300.000 EUR teurem Equipment kreiert hast. Das kriegst du live ja niemals hin.

MusikBlog: Es war also entspannter für euch?

Eddie Green: Ein wenig, aber eigentlich ist es mit uns nie einfach im Studio. Logistisch ist dieses vornehmliche Live-Einspielen schon eine Herausforderung. Es war also nicht unbedingt einfacher, aber anders.

MusikBlog: Habt ihr denn aus diesem Songwriting-Prozess jetzt euren Weg gefunden, wie ihr die nächsten Alben angehen wollt oder denkt ihr so etwas eher in geschlossenen Etappen?

Eddie Green: Ich denke, wir müssen in dem Moment schauen, wo wir gerade sind. Wir waren nach diesen Pandemie-Monaten einfach verzweifelt auf der Suche, live zu spielen und organischer aufzunehmen. Vielleicht fühlen wir uns beim nächsten Album ja ganz anders, das hängt sehr von den Umständen ab.

MusikBlog: Vielen Dank für das Interview.

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