Schon das Cover von „How To Let Go“, in dem Sigrid vor einer vernebelten Bergkulisse in einem signalroten Kleid anmutig auf einem Auto steht, macht klar, dass die Norwegerin nicht nur das Mädchen in Jeans und weißem T-Shirt hinter sich gelassen hat.
Mit dem Nachfolger zum allseits gefeierten Debüt „Sucker Punch“ greift die Norwegerin nach den ganz großen Sternen am Pophimmel und katapultiert sich damit in mancherlei Hinsicht über das Ziel hinaus.
Dabei die Hände mit ihm Spiel hatten Songwriterin Carolin Ailin und deren Partner Sly, die beide bereits mit Dua Lipa zusammengearbeitet hatten. Wenn man diesen Fakt auf dem Schirm hat, ist relativ offensichtlich, wohin Sigrids Reise gehen soll.
Das macht bereits die tanzbare Vorab-Single „Mirrors“ klar. Stampfende Discobeats treffen auf jede Menge Hall, während die mysteriösen Streicher aus dem Intro im opulenten Refrain nochmal einen Auftritt mit hektischen Einwürfen haben. Kurz vor Ende gibt es dann eine reduziertere Version des besagten Chorus, deren Basis ein Mix aus Klavier und Offbeat-Klatscher ist.
Man kann die mitgerissenen Hände über den Köpfen der euphorischen Zuschauer bei den zukünftigen Liveshows förmlich sehen, wenn nicht sogar die penetrante Note dieses typischen Teenager-Schweißes erahnen. Denn die dürften die hauptsächliche Zielgruppe von „How To Let Go“ sein.
Schön ist, dass dieses Spektakel zu den Zeilen „I love who I see looking at me / In the mirror, in the mirror / Nothing compares to the feeling right there / In the mirror, in the mirror” passiert. Auch wenn die Beschäftigung mit Body-Positivity sicher auch in etwas tiefgründigere Lyrics verpacken könnte, ist doch zumindest die Wahl der Thematik richtig und wichtig.
Weniger schön ist, dass „Mirrors“ jegliche Ecken und Kanten fehlen. 0815-Radiopop trifft auf oberflächliche Tiefgründigkeit, die mit erhobenen Zeigefinger wenig Interpretationsspielraum lässt. Klar, die Tanzfläche erobern, kann man dazu ausgezeichnet gut. Dieses Schicksal teilt ein Großteil der Songs von „How To Let Go“.
Auch die Balladen meinen es ein bisschen zu gut. Bestes Beispiel ist „Mistake Like You“. Was mit einer Mystik beginnt, die an die Beatles erinnert, steigert sein Instrumentarium proportional mit Fortschreiten des Songs und versumpft spätestens beim zweiten Refrain in triefigen Pathos. Und dann gibt’s noch ein verhalltes Gitarren-Solo obendrauf.
Man sollte sich also bei „How To Let Go“ die Frage stellen, was man erwartet. Wer auf der Suche nach seichter Mainstream-Unterhaltung mit euphorischer Tanzgarantie ist, der ist bei Sigrid richtig. Alle anderen sollten die Zeit stattdessen nutzen, um die bequemsten Schuhe zu entstauben und sich nächste Woche zu „Dance Fever“ von Florence + The Machine mit etwas mehr Ideenreichtum und Tiefe die Seele aus dem Leib zu wirbeln.