Dabei spielt die Natur eine zentrale Rolle – Calexico im Interview

Calexico haben mit ihrer Americana-Mariachi-Mixtur mittlerweile neun Platten alleine und zwei Alben in Kooperation mit Iron & Wine veröffentlicht, unendlich viele Venues gesehen und nebenbei noch andere Projekte gestartet. Die zehnte Platte “El Mirador” klingt trotz all der Historie erfrischend, sonnig – und extrem vielseitig. Ein Interview mit Gitarrist und Sänger Joey Burns über Diversität, Algorithmen und Gemeinschaft.

MusikBlog: Hey Joey! Ich hoffe, dir geht’s gut. “El Mirador” ist tatsächlich schon das zehnte Calexico-Album. Ist Songwriting und Produzieren mittlerweile zu einer Routine-Aufgabe geworden?

Joey Burns: Es fühlt sich nie wie Routine an. Jedes Album ist eher wie eine epische Reise, bei der wir nie wissen, wo sie uns hinführt, weder musikalisch, noch thematisch. Bei dieser Platte gab es auch viele Impulse von außen: Dieser ganze Informationskrieg online, die Klimakrise wird immer schlimmer, meine Kinder werden älter, ich lerne sehr viel über mich selbst, weil ich nicht mehr so viel auf Reisen bin. Und natürlich, dass ich jetzt wieder in meinem Zuhause in Tucson lebe. Dort bin ich völlig überhäuft von Freude und Glück.

MusikBlog: Dort hat also alles angefangen. Aber wo siehst du dann die Verbindung zum Titel “El Mirador”, was auch der Name einer großen Stadt der Maya ist?

Joey Burns: “El Mirador” hat ganz viele unterschiedliche Bedeutungen. Die Übersetzung heißt wörtlich “Der Seher”, wird aber vor allem mit den Maya verbunden. Ich wollte nicht nur unsere Welt thematisieren, die wir vor allem durch den Bildschirm sehen, sondern auch, wie wir unser eigenes Innenleben sehen.

MusikBlog: Das Thema der Introspektive finde ich gerade deswegen interessant, weil es auch Songs wie “Harness The Wind” oder “Cumbia Del Polvo” gibt, die gefüllt sind mit Natur-Metaphern und darum kreisen, draußen zu sein. Welchen Einfluss hatte denn die Natur auf die Platte?

Joey Burns: Natur ist immer ein sehr wichtiger Aspekt für mich. Auf dieser Platte gibt immer wieder Motive wie Wüsten in “Cumbia Del Polvo” oder das Gefühl vom Fliegen in “Harness The Wind”. Ich liebe solche Metaphern. Das Album bietet viele Settings. Dabei ist der letzte Song der Platte – “Caldera” – einer meiner liebsten, denn ich liebe das Bild, mit den eigenen Händen in der Erde zu wühlen. Heute morgen bin ich mit der Erkenntnis aufgewacht, dass viele Songs der Platte über das Leben und den Tod sprechen. Aber nicht vom Tod im morbiden, düsteren Sinne, sondern mehr in einer gesunden Balance zum Leben. Darüber, wie wir bewusst und gelassen mit Instabilität, Bewegung und Veränderung umgehen können. Und dabei spielt die Natur eine sehr zentrale Rolle.

MusikBlog: Findest du, eure Musik fühlt sich in der Natur, unter freiem Himmel anders an als in einer klassischen Konzerthalle?

Joey Burns: Normalerweise kann der Sound in der Natur überall hinreichen, dadurch fühlt es sich ganz anders an und auch sehr inspirierend. Wir haben mal beim Waves Rock Festival im westlichen Australien gespielt, das war sehr inspirierend. Ich fände es super spannend, so etwas auch in Arizona zu machen. Um sich dort mit anderen Menschen mit Zeit und Raum wie eins zu fühlen, mitten in der Natur – aber natürlich auch dementsprechend umweltbewusst.

MusikBlog: Das wäre ja gerade nach den ganzen Monaten, wo das nur mit Technologie möglich war, sehr besonders.

Joey Burns: Ja, ich glaube, es wird wieder normaler, dass Leute bewusst Events ohne Technologien aufsuchen werden.

MusikBlog: Auch auf dem Album spielt Gemeinschaft eine große Rolle. Ihr habt dafür wieder mit sehr vielen Musiker*innen zusammengearbeitet. Wie lief das genau ab?

Joey Burns: Wegen Corona und der Distanz schickten wir Leuten unsere Tracks einfach zu. Ob das jetzt Sam Beam von Iron & Wine ist oder Gaby Moreno oder Camilo Lara in Mexico City oder Martin Wenk in Deutschland. Wir haben das schon bei den letzten Alben öfter gemacht, weil alle mittlerweile sehr beschäftigt sind. Ich bin an der Stelle sehr dankbar für die Technologie, aber ich vermisse es auch, zusammen in einem Raum zu sein. Daher war es mir bei diesem Album sehr wichtig, dass der Schlagzeuger, die Keyboarder und ich alle in einem Raum sind. Ich wusste, wenn das klappt, haben wir eine gute Basis für den Rest. Alle haben sich auch sehr darüber gefreut, uns ihre Beiträge zuzusenden.

MusikBlog: Haben dich denn manche dieser Beiträge auch überrascht?

Joey Burns: Auf jeden Fall die für den Titeltrack “El Mirador“! Als ich das Gitarrensolo von unserem Freund aus Italien, Asso Stefana, gehört habe, war ich total überwältigt. Dann haben wir es an Gaby Moreno geschickt, die noch wunderschönen Gesang hinzugefügt hat und die Geige ist von Tom Hagerman, sie klingt schon beinahe ungarisch. Als das alles zusammen kam, dachte ich nur: Oh mein Gott, ist das großartig!

MusikBlog: Wo du schon über die vielfältigen Instrumente sprichst, die bei diesem Album ins Spiel kamen – auch in Bezug auf das Songwriting gibt es sehr unterschiedliche Momente. Beispielsweise das Instrumental “Turquoise” im starken Kontrast zum Up-Beat von “The El Burro Song”. Siehst du denn einen roten Faden im Album?

Joey Burns: Ja, ich sehe vor allem die ganzen Farben der Songs, die ineinander übergehen. Auch in meinem Hintergrund sind ja gerade viele Farben zu sehen (zeigt auf seinen Kosmos-Hintergrund in Zoom). Manche Farben sind heller, wie der “The El Burro Song”, manche sind etwas düsterer wie “Caldera”, aber sie gehören alle zusammen. Vermutlich, weil es von denselben Musiker*innen kommt. Ich finde, wir haben einen sehr guten Job dabei gemacht, dass alles so gut zusammenpasst.

MusikBlog: Dieses Gefühl hatte ich tatsächlich auch beim Hören. Insbesondere interessant, weil die Songs ja teils so unterschiedlich klingen.

Joey Burns: Ich bin selbst auch kein Mensch, der gerne ähnlich klingende Musik hört. Das langweilt mich sehr schnell. Ich mag Veränderung. Ich glaube, wenn Leute anfangen, Musik nur noch für Algorithmen zu schreiben, ist das Bullshit. Ich bevorzuge da eine normale Person, die mir im Radio Musik empfiehlt. Das hat ja auch etwas mit Sicherheit und Komfortzonen zu tun: Manche Leute wollen einfach immer wieder dasselbe hören. Mir ist es hingegen wichtig, dass unsere Musik auch eine Repräsentation unserer Gemeinschaft ist, mit unterschiedlichen Geschmäckern, Instrumenten und Sprachen. Gerade auf dieser Platte habe ich aber versucht, die Diversität etwas herunterzufahren und mehr auf Eingängigkeit zu setzen, wobei der Latin-Anteil im Vordergrund stehen sollte. Das soll ja auch ein Statement sein: Das hier ist eine Band, die aus einer Region kommt, die eine Mixtur aus Kulturen, Sprachen und Ideen ist. In den USA, die gerade aus der Trump-Regierung kam, ist das auch eine Art zu fragen: Wo ist hier das Problem?

MusikBlog: Welche Rolle spielte denn die Heimat Tucson sonst bei den Aufnahmen?

Joey Burns: Ich stand bei dieser Platte einmal mehr zwischen den Stühlen, schließlich bin ich ja auch noch Vater und kann nicht mal eben Ewigkeiten weg von Zuhause sein. Deswegen bin ich überglücklich, denn ohne Sergio Mendoza hätte es diese Platte nicht gegeben. Er hat Ende 2020 beschlossen, dass er in Tucson ein Studio bauen müsste, weil er wegen der Pandemie nicht mehr zu seinem Proberaum fahren konnte. Dann fand er ein paar Container, die damals noch bezahlbar waren. Glücklicherweise kannte er dann auch noch jemanden, der daraus ein Studio bauen konnte. Zeitlich war das optimal getaktet: Als ich im Juni 2021 zurückkehrte, war er gerade fertig mit dem Studio. Er hatte noch nicht mal selbst dort gespielt!

MusikBlog: Dann war es wohl Schicksal, dass ihr die Platte da aufnehmen konntet! Gibt es denn nach all den Jahren immer noch Projekte, die ihr mit Calexico umsetzen wollt?

Joey Burns: Ja, unzählige. Insbesondere möchte ich noch viel mehr mit anderen Künstler*innen zusammenarbeiten. Nicht unbedingt auf ganzen Alben, aber mehr auf einzelnen Songs. Das wäre wirklich wundervoll. Im Januar 2020 hatte ich zum Beispiel das letzte Mal ein Album mit einem anderen Künstler produziert – Dean Owens. Unsere Stimmen haben plötzlich so gut harmoniert, es fühlte sich an, als wären wir Brüder. Davon möchte ich noch mehr finden. Und ich würde sehr gerne ein Musical schreiben oder für Filme komponieren – oder natürlich auch für Podcasts. Letztens habe ich Musik für einen Podcast geschrieben, da hatten wir ganz klare Vorgaben für die Instrumente. Das war sehr spannend. Vielleicht machen auch John und ich mal wieder nur was zu zweit für Calexico.

MusikBlog: Vielen Dank für das Interview.

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