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Shame – Drunk Tank Pink

Flashback in das Jahr 2018: die britischen Album-Charts sind überschwemmt von neuen Alben der Parcels, Slaves, Arctic Monkeys, Idles oder Sunflower Bean. Es war ein schönes Jahr voller neuer herausragender Musik. Doch niemand will so richtig glauben, dass ein Album, welches schon am 12. Januar 2018 erschien, fast alles übertrumpfen sollte:

Vier unbekannte Jugendliche aus dem Süden Londons, die sich Shame nennen, hauten mit „Songs Of Praise“ einen Richtwert auf den Markt, der sich gewaschen hatte. Von der Musikpresse gelobt und gehuldigt, spielten Shame schlagartig ganz oben mit und blieben sich ihrer jugendlichen Unbeschwertheit dennoch treu.

Wo sich Künstler wie zum Beispiel Rat Boy, La Roux oder The Amazons an ihren Erfolg ergötzten und ausruhten, machten Shame einfach weiter: Mit unzähligen Konzerten und Zwanglosigkeit im Kopf.

Nun – drei Jahre später – sieht die Musikwelt nicht unbedingt anders aus. Idles und Slaves spielen immer noch die Vorreiterrolle des britischen Punks, Rat Boy versucht zwanghaft, immer noch dem Image des Skate-Punkers gerecht zu werden, La Roux hat nach sechs Jahren mit „Supervision“ auch mal wieder ein Album rausgebracht und The Amazones leben weiterhin vom Erfolg ihres gleichnamigen Debüts.

Und Shame? Die haben seit dem Release ihres ersten Albums 276 Konzerte rund um den Globus gespielt. Da kam 2020 eine Corona-bedingte Zwangspause gerade recht. Doch Erholung scheint ein Fremdwort für Band um Charlie Steen zu sein, und so schlossen sie sich die letzten Monate im Tonstudio ein und produzierten fleißig ihr zweites Album.

Mit “Drunk Tank Pink“ erscheint nun das langersehnte Zweitlingswerk und schon beim ersten Hören muss man sich kneifen, um glauben zu können, dass das, was da aus den Boxen tönt, wirklich die gleiche Band ist, die 2018 “Songs Of Praise“ auf die Welt losgelassen hat.

Das neue Album, welches von James Ford (Simian Mobile Disco und The Last Shadow Puppets) produziert wurde, klingt anders – deutlich ungewohnt. Aber es versprüht eine Art Frische, die Shame sichtlich gut tut.

Der Opener „Alphabet“, auch die erste Single des neues Albums, lässt einen wieder daran erinnern, warum man Shame mögen sollte: brillante Gitarrenriffs und ein dreschendes Schlagzeug – perfektes Moshpit-Material also.

„Alphabet“ ist tanzbar – sehr sogar – aber der Song vermittelt dennoch diese Außenseiterstimmung, die Shame seit jeher begleitet: “Now, what you see is what you get. I still don’t know the alphabet […] Don’t forget your P’s and Q’s. Just smile when we tell you too”.

Wer dachte, dass “Drunk Tank Pink“ fließend aufgebaut ist, der muss getäuscht werden. Denn Routine kommt auch bei „Nigel Hitter“ nicht auf. Mit seinen eher an Funk erinnernden Gitarren, dem treibenden Beat und choralen Wiederholungen des gesprochenen Gesangs Charlie Steens, wirkt „Nigel Hitter“ positiv – für Shame-Verhältnisse sogar sehr freundlich.

Der Text handelt von der Alltäglichkeit und wird sehr bildlich beschrieben: „Like the wheels on a bus, It just keeps on turning […] It just goes on, It just goes on“ – der Song entstand nach dem Ende der letzten Tournee. Steen, der Monate lang mit Shame nur auf Achse war, kam wieder zu Hause an – zurück im normalen Leben.

Doch so einfach das klingt, so schwierig war es für den Frontmann, eine normale Gewohnheit in den Alltag zu bringen. Statt stundenlanger Busfahrten, Verstärker-Schleppen, Soundchecks, Interviews, Konzerte und Übernachtungen in Hotels, fand er sich nun in seiner eigenen Wohnung wieder – ohne jeglichen Antrieb, dem Tag einen Sinn zu geben.

Doch aus dieser ungewohnten Situation entstand schnell die Erkenntnis, dass der Alltag weitergeht – immer weiter.

Den ersten Kontrast-Moment liefert „Human, For A Minute“. Ein Song, der eher gediegen und ruhig daherkommt. 2018 spielten Shame diesen Song in einer Urform auf einigen Konzerten und arbeiteten diesen immer weiter aus. Die ruhige und unaufgeregte Stimme Charlie Steens ist ein gefühltes Novum auf “Drunk Tank Pink“ und erinnert an „Friction“ und „Angie“ vom Debütalbum.

Doch all diese Ruhe wird schlagartig von „Great Dog“ unterbrochen. Der Mosphit wird diesen Song lieben – voller explosiver Energie, so wie man Shame kennt und liebt.

„Station Wagon“ bildet den Abschluss auf dem neuen Album. Mit 6:39 Minuten ist es der längste Song und beginnt deutlich langsamer als seine Vorgänger. Die ruhige Stimmung aus den ersten Takten wird vereinzelt nur durch disharmonische Gitarren durchbrochen. Dabei treiben Shame die Energie immer weiter in Höhe, bis im mittleren Klavierpart schlagartig wieder Ruhe einkehrt:

“And all is but a distant memory when I look up at it” – unsere Probleme werden relativiert, wenn wir einfach weiter schauen. Dieser Song ist so positiv, als ob all die Ängste aus den vorherigen Liedern exorzisiert wurden.

“There’s a new station wagon and it’s hitting the road” – der Song ist perfekt, um “Drunk Tank Pink“ abzuschließen. Er baut sich bis zum Ende immer mehr auf und vermittelt einem das Vertrauen und die Bereitschaft für eine Zukunft. Gerade in Zeiten von Corona ein wertvolles Gut.

Die Songs auf “Drunk Tank Pink“ sind unvorhersehbar – keiner kann erahnen was als nächstes passiert. Vermutet man einen krachenden Refrain, kommt leises Wasserrauschen – zieht sich ein Song mit lauten disharmonischen Gitarren, dann schlägt er plötzlich ruhige Töne an.

Das liegt vielleicht an der „Produktionsreise“ des Albums. Angefangen hat diese im Süden Londons, wo Bassist Josh Finerty alle neuen Ideen zu Hause aufnahm. In den schottischen Highlands wurden diese dann mit dem Elektro-Künstler Makeness ausgearbeitet, um die Songs anschließend in den französischen La Frette Studios aufzunehmen.

Das Geniale an dem Album ist, wie Steens lyrische Themen mit der Musik verzahnt sind. Das Ergebnis ist eine enorme Erweiterung des klanglichen Arsenals von Shame und kommt nun in voller Gänze auf uns zu – wie ein Bierbecher, der aus einem Mosh-Pit gefeuert wird.

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