„The Catastrophist“ ist das erste Album von Tortoise seit sieben Jahren und schon allein deshalb eine kleine Sensation. Die Experimentalband aus Chicago hatte sich in letzter Zeit rar gemacht, eine neue Platte hatte niemand wirklich auf dem Schirm.

Vor über zwanzig Jahren erschien das schlicht „Tortoise“ betitelte Debütalbum und eröffnete dem Indie-Pop ungeahnte Möglichkeiten: Jazz, Prog- und Krautrock, Psychedelic, Dub – Mastermind John McEntire und Kollegen kombinierten die unterschiedlichsten Stile miteinander und schufen etwas völlig Neues.

In einer bis dato unbekannten Mischung aus vertrackter Komplexität und gleichzeitiger Leichtigkeit begann mit Tortoise eine neue Ära des ausfransenden Instrumentals. Bands wie The Sea and Cake oder Trans Am zogen am selben Strang, doch der Sound von Tortoise war und blieb einzigartig: Leuchtend, elegant, intellektuell, dabei viel weniger nerdig, als man vermuten konnte.

Mit „The Catastrophist“ schlagen Tortoise (aktuelle Besetzung: McEntire, Dan Bitney, John Herndon, Doug McCombs, Jeff Parker) ein neues Bandkapitel auf: Am Anfang stand ein Auftrag der Stadt Chicago, Stücke über die lokale Musikszene zu schreiben. Die fünf entstandenen Tracks probierten Tortoise auch live aus und beschlossen, auf dieser Basis ein neues Album in Angriff zu nehmen.

Da die Auftragsarbeiten sowieso ein wenig aus dem Tortoise-Rahmen fielen, ging die Band noch freier als sonst schon an die restlichen Stücke heran. Erste Überraschung: Es wird gesungen! Mehrfach sogar! Für das balladeske „Yonder Blue“ wünschten sich Tortoise ursprünglich Robert Wyatt als Gastsänger, doch dieser sagte freundlich ab, weil er sich gerade zur Ruhe gesetzt hatte.

Als „zweite Wahl“ blieb Georgia Hubley von Yo La Tengo – was nicht als Unhöflichkeit verstanden werden darf, so Tortoise: An Hubley dachten sie auch, nur nicht unbedingt für dieses Stück. Die Kombination ist so oder so bestens gelungen, Georgia Hubleys Stimme eine wundervolle Ergänzung zum Sound von Tortoise.

Zweite Überraschung: Eine Coverversion, ebenfalls mit Gastsänger (Todd Rittman, Gitarrist der Chicagoer Band U.S. Maple)! Die Wahl fiel auf „Rock On“, dem großen Hit von David Essex, der 1973 nonstop im Radio lief und die jugendlichen Tortoise-Musiker offensichtlich sehr beeindruckt hat. In ihrer eigenen Version zerlegen sie das rockige Stück in seine Einzelteile, durch die Fragmentierung und Synthetisierung entsteht eine neue, ungewöhnliche Interpretation.

Die neun übrigen, gewohnt instrumentellen Stücke wirken wie eine Retrospektive des eigenen Schaffens: „Wir dachten uns, es sei an der Zeit, mit unserem Material ein wenig herumzuspielen“, wird McEntire zitiert, und genauso fühlen sich die Tracks auch an. „Gopher Island“ zum Beispiel dauert gerade mal eine Minute und wirkt wie eine Skizze, während die erste Single „Gesceap“ mit den aufeinander losgehenden Synthesizern und dem üppigen Einsatz der anderen Instrumente eine wahre Sound-Explosion entfacht – wie gemacht für Tortoises Improvisations-Battles bei ihren Konzerten.

Stehen Tortoise schon seit Anbeginn für eine so libertäre wie hochkomplexe Herangehensweise an Musik, gönnen sie sich und den Fans mit „The Catastrophist“ mehr Poppigkeit und Zugänglichkeit – mal schauen, wohin sie das noch führt…

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