„Wachstum ist immer mit Schmerzen verbunden“. Mit diesem Kommentar rechtfertigte 2008 das Organisationskomitee des MELT! -Festival die Mutation dieser bis dahin besonderen Veranstaltung an einem besonderen Ort zur Rock-am-Ring ähnlichen Massengaudi inklusive Sauftourismus. Expansion bedeutet aber eben nicht zwangsläufig Qualitätsverlust, wie man am vergangenen Wochenende beim 2.Kosmonaut-Festival am Stausee Oberrabenstein bei Chemnitz erleben konnte.

Nachdem die letztjährige Erstauflage aus dem Stand mit 6.000 Besuchern ausverkauft war, plante die Band Kraftklub mit ihren Helfern dieses Jahr eine Nummer größer, mit Zeltplatz und all dem üblichen Schnickschnack einer mehrtägige Open-Air Veranstaltung. Dass damit der Nerv der sonst eher verschlafenen Region rund um das ehemalige Karl-Marx-Stadt getroffen wurde, zeigte sich schon an den langen Schlangen an den Parkplätzen bei der Anreise, rund 10.000 Besucher wollten mitfeiern.

Die Nähe zu Chemnitz führte am Freitag dazu, dass viele Eltern ihre feierwütigen Sprösslinge mit Sack und Pack an der Bushaltestelle gegenüber dem Festivalgelände absetzten, immer argwöhnisch vom Ordnungsamt beobachtet. Hätten die Erziehungsberechtigten einiger weiblicher Gäste gewusst, wie viele Kleidungsstücke sich ihre Töchter vor Eintritt auf das Gelände noch vom Leib reißen würden – einige Zentralverriegelungen wären sicher unten geblieben. Das Wetter jedenfalls tat an diesem Abend sein Bestes, um zu einem gelungenen Auftakt beizutragen. Die Location des Naherholungsgebietes erwies sich dabei ebenfalls als Volltreffer. Auf der gepflegten Anlage (und zwar inklusive des Sanitärbereiches!) hatte neben der direkt am Strand gelegenen Mainstage auch eine zweite kleinere Bühne Platz, auf der sich an beiden Tagen DJ`s im 2-Stunden -Takt abwechselten und die Elektro-Freaks auf ihre Kosten kommen ließen.

Den musikalischen Auftakt machten Bilderbuch aus Österreich, was die meisten Besucher aber noch nicht mitbekamen, weil die Schlange auf der mit unzähligen Flaschen und Dosen übersäten Wiese (gibt es in Chemnitz keine organisierte Leergut-Mafia?) vor dem Bändchen-Tausch Stand doch eine erhebliche Länge erreicht hatte. Mighty Oaks als erster Act mit überregionalem Bekanntheitsgrad klangen dann mit ihrer Folk-Pop-Show irgendwie so harmlos wie die musikalische Untermalung eines Kirchentages. Mit harmlos war es dann vorbei, der Auftritt von Alligatoah mit seinem derben Schulhof-Slang-Rap traf den Nerv der Teenies. Keinen seiner Netz-Hits blieb er schuldig, von „Amnesie“ bis „Trostpreis“ war alles dabei und bei letzterem konnte man in vielen Augen Zustimmung hinsichtlich der gegenwärtigen Lebens-Begleitung ablesen. Schöne Show, der Kollege sollte sich bei seinen Entertainment-Einlagen aber noch entscheiden, ob er lieber Helge Schneider oder Bela B. sein möchte, sonst wird das nix.

Nun hätte man gedacht, dass es Bosse mit seinen doch etwas verkopfteren Texten im Anschluss schwer haben würde, aber weit gefehlt. Mit einem fulminanten Auftritt begeisterte er, erwies sich als begnadeter Geschichtenerzähler und erklärte dem Nachwuchs das Akkordeon. Beim letztjährigen Radio Hit „Schönste Zeit“ gab es auf jeden Fall auch keine Textunsicherheit im Publikum.

Dann war es soweit, der Headliner des Freitag, auf den, den T-Shirt Aufschriften nach zu urteilen, auch die meisten Besucher gewartet hatten, erschien. Casper lieferte die tour-erprobte Mischung von alten und neuen Gassenhauern und sorgte noch einmal für Hochstimmung. Natürlich ließ es sich Kraftklub Frontmann Felix nicht nehmen, seinen Original-Part in „Ganz Schön Okay“ persönlich beizusteuern. Bei so viel Hype fällt auch der gnadenlos untersteuerte Bass nicht ins Gewicht, die gruselige Scorpions-Choreografie seiner Band findet zu des Sängers Glück hinter seinem Rücken statt, aber auf die Rammstein-artigen Pyrotechnik Einlagen sollte Casper demnächst verzichten.

Das Wetter am Samstag lief zunächst zu Höchstform auf. Knapp 30 Grad zur Mittagszeit führten dazu, dass sich kurz vor Öffnung des Geländes ein riesiger Pulk von Badewütigen vorm Eingang versammelt hatte. Was wiederum bei den DLRG Fachleuten auf dem Rettungsturm den wohl stressigsten Tag der Saison bescherte. Zu deren Glück setzte bald Regen ein und die Crowd begab sich größtenteils wieder aus dem Wasser, denn viele der fröhlichen jungen Leute hatte inzwischen weit mehr als ein Blechbrötchen gefrühstückt. So gerieten die ab 15.00 Uhr auf der Hauptbühne agierenden Still Trees mit gefälligem Indie-Pop und die anschließend ihren Namen alle Ehre machenden The Durange Riot  aus Schweden leider etwas zur Nebensache.

Der folgende Auftritt von Feine Sahne Fischfilet vom berühmten Audiolith-Label wurde zur Sternstunde vom Chemnitzer schwarzen Block. Die mit Ska-Bläsern aufgehübschten 3 Akkorde für ein Halleluja Nummern der Rostocker ließen den Mosh-Pit schier explodieren, die schwarz-roten Fähnchen flatterten im Wind. Selbst Bengalos wurden vor der Bühne gezündet (hat man bei einem Festival in dieser Form auch noch nicht gesehen), aber auch das ließ die Security laufen. Überhaupt an dieser Stelle ein paar Worte zum Sicherheitsdienst: der bestand zur Abwechslung mal nicht aus Testosteron geladenen Handschuhträgern, verhielt sich extrem zurückhaltend (siehe auch all die leeren Fremdgetränkedosen auf dem Gelände) und griff wirklich selten ein: nur einmal, als eine Besucherin sich in voller Bekleidung ein schwimmendes Styropor „N“ aus dem auf dem See treibenden Festival-Logo erschwomm und zum zweiten als 2 frisch Verliebte bzw. Volltrunkene drohten, einen Sicherheitszaun neben der Bühne umzuknutschen.

Die alten Festival-Recken WhoMadeWho mussten als einzige ihr Set im Dauerregen spielen. Verdient hatte es die schrägen Dänen auf keinen Fall, denn ihr Auftritt markierte bis dahin ganz klar den musikalischen Höhepunkt des Festivals. Der treibender Indie-Pop ist seit jeher in der ersten Liga zu Hause, die Gitarre wird schon mal mit der Bierflasche gespielt, als Erfrischung auf der Bühne gibt es Wodka gereicht (und zwar direkt aus dem 0,7er Rohr!) und der Sommerpyjama vom schnauzbärtigen Sänger rundete auch optisch die Angelegenheit ab.

Laura-Mary Carter und Steven Ansell, zusammen Blood Red Shoes, bewiesen bei ihren 45-minütigen Set wieder eindrucksvoll, welchen Druck ein Schlagzeug und eine Gitarre entwickeln können. Allerdings merkte man bei deren Hit-Potpourri aus den vergangenen 4 Alben doch arg, dass die Arrangements ihrer Stücke nicht gerade als heterogen bezeichnet werden können, oder anders: Ab Lied 5 läuft es sich etwas tot.

Die zuletzt konsequent überbewerteten Klaxons brachten es bei ihren Auftritt mit doppelt so viel Personal wie die Vorgänger nicht auf doppelt so viel Druck. Wenn die Songs auch insgesamt einen Zug markanter daherkommen als auf dem letzten Album, bleibt der Gesang gerade in höheren Oktaven gewöhnungsbedürftig. Man hatte bei deren ersten Nummer auch den Eindruck, die Menschen fanden das am 11 Freunde-Stand übertragene WM-Achtelfinale zwischen Chile und Brasilien wesentlich interessanter.

Zuletzt auf der Mainstage noch der geheime Headliner, auf den man vorher im Wettbüro wetten konnte, die Spannung stieg. Viele Namen machte die Runde, von Clueso bis zu den Veranstaltern selbst. Der Umbau fand hinter geheimnisvoll verhüllt statt, Punkt 22.35 Uhr (die Running Order wurde übrigens an beiden Tagen minutiös eingehalten) kamen Kraftklub auf die Bühne um sich bei allen Helfern, Acts und Besuchern zu bedanken. Der Vorhang fiel und da standen: Fettes Brot! Die Hit-Maschine aus dem Norden hatte auch keinerlei Schwierigkeiten, diesen Part auszufüllen. Das nun nahezu geschlossen vor der Hauptbühne versammelte Publikum war happy.

An diesem Wochenende wehte neben viel Ostalgie und noch mehr ulkigem Dialekt auch eine extrem friedliche Stimmung über das Gelände, hoffentlich verfällt Kraftklub nicht in den Expansionswahn und belässt die Veranstaltung bei dieser Größe. Der Termin für das nächste Kosmonaut am 26./27.06.2015 ist im Kalender jedenfalls schon dick markiert!

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