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Casper – XOXO

Zugegeben, als mir das Video zu „Der Druck steigt/ Blut sehen“ an einem Sonntagmorgen im Fernsehgerät begegnete, war der erste Gedanke: Nicht schon wieder deutscher Aggro-Rap! Auf den zweiten Blick jedoch erschien das im Song behandelte und visuell umgesetzte Thema ernst genug, um sich ernsthaft damit zu befassen. Und spätestens nachdem Textzeilen wie „Tragen schwarz, jeden Tag bis es etwas dunkleres gibt“ oder „Bevor wir betteln gehen, gehen wir lieber klauen“ auftauchten, war abzusehen, dass sich an diesem Album die Geister scheiden werden.

Der real existierende Bielefelder Casper unternimmt auf seinem zweiten Album den abenteuerlichen Versuch, deutsche Musikgeschichte der letzten 20 Jahre im Spagat zu vereinen. Vom deutschen Hip-Hop bis zur Hamburger Schule kommt nichts ungeschoren davon. Keine Versuche, sich als Gangster zu produzieren, kein Sexismus, keine Verbundenheit zum Rotlichtmilieu, keine Verherrlichung des Drogen-Konsums. Und wahrscheinlich genau deshalb ist das Album das, was der deutschsprachigen Rap-Szene einmal provokativ vor die Nase gehalten werden musste.

Statt genre-üblichem Machogehabe begegnet man musikalischer Qualität irgendwo zwischen Rock-Band und Hinterhof-Kapelle. Und Inhalten voll tiefer Ehrlichkeit und Emotionen. Huldigungen seiner musikalischen Helden wie Bruce Springsteen (mehrfach Nennung der E-Street Band), De La Soul  („3 Feet High And Rising“) und den Smiths (ein Licht, das niemals erlischt) sind an jeder Ecke des Albums unüberhörbar. Wer zeitweise mit zu viel Serotonin im Blut unterwegs ist, dem sei „Alaska“ an´s Herz gelegt und wer nach „Michael X“  nicht kritisch einen SOLL/IST Vergleich seines eigenen Lebens macht, sollte sich schleunigst mal wieder zum Blutdruckmessen begeben. Die Kooperation mit Thees Uhlmann im Titelsong gibt dem Stück ein wenig Schwerelosigkeit und hebt es über die ansonsten gedrückte Stimmung.

„XOXO“ ist ganz sicher nichts für Bausparer und Eigenheim Abzahler. Eines ist der Platte jedoch gewiss: der Preis für das desillusionierendste Album des Jahres. Oder anders ausgedrückt, könnten die Songs auch das Sprachrohr einer Generation sein, die aus Folge versäumter Sozialisierung immer zwischen McJob und White Trash geparkt wird. Aber die hat das Album  auf Platz 1 der deutschen Charts befördert. Weil es so viele sind. Bielefeld ist überall, nicht nur in London. Die Autos werden weiter brennen. Sie holen sich, was ihnen ohnehin gehört.

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